Die Frau schrie, das Kind weinte Im Rausch der Verwandlung durchs Engadin. Bis der Blick aufs Handy fällt.
Kurz bevor wir in Pontresina ankamen, kotzte meine Tochter auf die gepflegteste Dame in der Bahn. Der Zug von Zürich ins Engadin war voller gepflegter Damen. Die Sommersaison hatte begonnen, die Hotels in den kleinen Ferienorten wimmelten von Gästen. Herren mit Mokassins sassen neben Damen in Designerkleidern. Bis eben hatte ein frischer Hauch von Urlaub in der Luft gehangen. Durch die Fenster sah man schneebedeckte Berge. Einen Moment vor dem Zwischenfall hatte ich mich vorgebeugt, damit das Kind auf meinem Schoss das Wunder besser schauen konnte. Im Nahen Osten, wo ich herkomme, ist Schnee selten, so rar, dass – wenn er denn ein- oder zweimal pro Jahr unseren einzigen hohen Berg bedeckt – Menschen aus allen Ecken des Landes anreisen, um das Wunder zu bestaunen. «Schau!», sagte ich zu meiner Tochter, und sie guckte aus dem Fenster. «Hübsch, ja?», fragte ich, und sie ruckelte auf meinen Knien hin und her. Eine Sekunde später spie sie schon ihr Mittagessen auf die Frau gegenüber.
Sommerfrische in Pontresina
Die Frau schrie. Mein Kind weinte. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Als ich, von vorwurfsvollen Blicken begleitet, den Wagen verliess, griff ich in meine Handtasche. Zwischen Feuchttüchern und Milchfläschchen steckte ein abgegriffenes Exemplar von Stefan Zweigs Roman «Rausch der Verwandlung».
Seit einigen Jahren verzichte ich auf Reiseführer. Anstelle von «Michelin» oder «Lonely Planet» suche ich literarische Werke, die über meinen Zielort geschrieben wurden. Nun ist einem Roman zwar kaum zu entnehmen, wo sich das beste Restaurant am Ort befindet oder wo es sich einzukaufen lohnt. Aber während Reiseführer ihre Leser von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten lenken – «die malerischen Gassen!» – «die zauberhafte Piazza!» –, führt mich ein gutes Buch zu einem Schatz anderer Art, zu einem Stückchen kristallreiner Wahrheit an dem Ort, wo ich mich befinde.
Stefan Zweigs «Rausch der Verwandlung» beginnt im verarmten Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. Die Hauptfigur, Christine, ist eine mittellose junge Postassistentin in Niederösterreich. Ihr Leben ändert sich, als ihre reiche Tante sie zum gemeinsamen Sommerurlaub ins mondäne Pontresina einlädt. Christine verlässt die dunkle Kammer, wo sie tagsüber die Post sortiert, und fährt in den sonnigen Ferienort.
In den Schweizer Alpen begegnet Christine der Natur in all ihrer Pracht: Die Berge sind atemberaubend, die Blumen strahlen in tausend Farben, die Luft ist frisch und gut. Was Christine jedoch zutiefst verändert, ist nicht die Schweizer Natur, sondern die Begegnung mit der Lebensart der Menschen im Hotel: die ruhige Gediegenheit gemangelter Bettwäsche und perfekt vorgewärmter Handtücher. Die unglaubliche Auswahl beim Frühstück. Die völlige Hingabe an Gaumenfreuden und körperliches Wohlbefinden. Sie, die gewohnt ist, sparsam genau die ihr zugeteilte Brotration zu essen, wird in einen Speisesaal geführt, in dem unzählige Gerichte aufgetischt werden und Weingläser klingen. Zweig widmet knapp zwei Seiten der fast erotischen Schilderung des Moments, als seine Heldin zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Brötchen beisst. Er beschreibt ausführlich Backwaren und «Schokoladenbonbons» und im Weiteren, ähnlich ausschweifend, auch Tennisplätze, Reiten, eine Bootsfahrt auf dem See, eine Fahrt im offenen Wagen. Zweig, Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie in Wien, kannte all diese Annehmlichkeiten.
Vertreibung aus dem Paradies
Christines Aufenthalt in Pontresina erinnert an Aschenputtels Besuch im Schloss. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtet sie Schönheit und Reichtum, die das majestätische Engadin zu bieten hat. Doch Zweigs Roman, der tatsächlich wie eine Aschenputtel-Geschichte anfängt, nimmt eine andere Wendung. Die Hautevolee in dem Schweizer Hotel nimmt Christine zunächst freundlich auf, doch als ihre Herkunft aus einer armen österreichischen Familie durchsickert, kehren ihr die anderen Gäste den Rücken. Die Rückkehr aus dem Palace Hotel in ihr armseliges Heimatdorf wird als Vertreibung aus dem Paradies geschildert. Konnte Christine sich vor der Reise noch mit ihrem dürftigen Leben abfinden, wird es ihr nun zur Hölle. Nachdem sie wahren Wohlstand gekostet hat, ist sie unfähig, wieder das arme, karge Leben aufzunehmen, das der österreichischen Unterklasse nach dem Krieg beschieden ist.
Stefan Zweigs Engadin ist ein Trugbild. Was als Märchen beginnt, endet in einem Albtraum. Zweig schildert die Schweizer Alpen gekonnt als einen Garten Eden, aber es ist ein Paradiesgarten, den nur wenige betreten dürfen. Für die anderen, die draussen bleiben müssen, wird das Wissen um den unerreichbaren Garten Eden zur Qual. Nach den Worten von Bertolt Brecht: «Hierorts / Hat man ausgerechnet, dass Gott / Himmel und Hölle benötigend, nicht zwei / Etablissements zu entwerfen brauchte, sondern / Nur ein einziges, nämlich den Himmel. Dieser / Dient für die Unbemittelten, Erfolglosen / Als Hölle.»
In Pontresina angekommen, schlendere ich durch die Strassen und schaue mich um. Will man im Hebräischen die Schönheit eines pastoralen Ortes beschreiben, sagt man gern: «Schön wie eine Schweizer Ansichtskarte» – «Schweizer Ansichtskarte» wurde zum festen Begriff, zu einem Synonym für Schönheit. Scheinbar geht es um die Schönheit der Berge, der für alle zugänglichen Natur. Aber dann könnte man auch sagen «schön wie eine nepalesische» oder «eine peruanische Ansichtskarte». Die Alpen sind beeindruckend, aber das gilt auch für den Himalaja und die Anden. Stefan Zweig erkannte sehr wohl, dass die Schweizer Alpen weit mehr als nur wilde und jungfräuliche Schönheit symbolisieren – das Engadin steht für Luxus. Pontresina ist nicht deshalb schön, weil es in Grün schwimmt, sondern weil es in all dem schwimmt, was Geld zu bieten hat.
Das Sehnen aus der Ferne
Die düstere Fortsetzung von «Rausch der Verwandlung» schildert den wachsenden Groll in Christines Herz, nachdem sie aus dem Schweizer Hotel in ihr altes Leben zurückgeworfen worden ist. Die finanzielle Not endet in Frustration – und die Frustration in Gewalt.
Zweig hat diesen Roman mitten im Zweiten Weltkrieg geschrieben. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 begann man, seine Bücher zu verbrennen, und er wurde aus der deutschsprachigen Welt verdrängt. 1938, beim Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland, floh er nach England. 1941 zog er weiter ins tropische Brasilien, wo er über Pontresina im Engadin schrieb.
Wie seine Protagonistin sehnte sich Zweig von ganzem Herzen nach einer Rückkehr ins Alpenparadies. Und wie sie begriff auch er, dass ihm der Weg versperrt war: «Es ist wie … wie wenn man von der Strasse aus hinter einer Glaswand im Café Tanz sieht, und man hört nicht die Musik. Man weiss nicht, warum sie sich so drehen zu einem Takt, den man nicht hört, und so verzückte Gesichter machen. Irgendetwas an ihnen begreift man nicht und sie nicht an einem.»
Man kann «Rausch der Verwandlung» als Zweigs Lied der Sehnsucht nach den Schweizer Landschaften lesen, nach einer Perle Europas, die er nie wiedersehen würde. 1942 schied er in seinem brasilianischen Wohnort Petrópolis, zusammen mit seiner Ehefrau, aus dem Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, er tue das, «nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.»
«Rausch der Verwandlung» – oder «Postfräuleingeschichte», wie Zweig das Werk selbst nannte – fand sich unter seinen nachgelassenen Manuskripten. Aus dem sehnlichen Gedicht, das der Schriftsteller auf die Alpenperle verfasste, kann man auch Kritik herauslesen: Christines Bitterkeit und Geldnot ist eine Miniatur des besiegten Deutschlands und Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg. Verzweiflung und Frustration verwandeln sich rasch in Hass und Gewalt. Zweig hatte es ja am eigenen Leib erlebt. Die Schweizer Neutralität, die noble Ruhe Pontresinas – ihnen galt das Sehnen aus der Ferne. Verlangen und Neid, Neid und Hass lagen niemals näher beieinander. Christine wird hass- und wuterfüllt: «Auf nichts mehr einen Blick tun, nicht erinnert werden, dass von jetzt auf ewig diese Berge für andere sind, für andere die Spielplätze und ihre Spiele, die Hotels und ihre spiegelnden Zimmer.»
Dann zurück nach Hause
Wie in «Rausch der Verwandlung», so auch heute: Der Mensch kann nach Pontresina verlangen wegen der Schönheit des Ortes, wohl wissend, dass diese Schönheit ihm nie wirklich offenstehen wird – da er nicht der richtigen Nation, dem richtigen Stand, dem richtigen Heer angehört –, und spüren, wie das Verlangen in verhaltenen Groll umschlägt. Das ist der Augenblick, in dem das Paradies zur Hölle wird, wie Brecht feststellte.
Ich sinne darüber nach, als ich meinen Weg von Pontresina ins Fextal fortsetze. Das Hotel dort ist vielleicht der schönste Ort, an dem ich je war. Durch die Fenster fällt der Blick auf eine Schweizer Ansichtskarte. Die Laken sind weiss und glatt. Das Brot zum Frühstück ist warm und frisch. Beim Abendessen wird das Essen von gelernten Kellnern serviert, die den Wein zuvorkommend einschenken. Tagsüber begebe ich mich auf die vielen Wanderwege rings um das Hotel. Die Vögel zwitschern. Kein Lärm ist zu hören – das Tal ist für den Autoverkehr gesperrt. Nichts stört die Ruhe. Den Sonnenuntergang sehen wir von dem Balkon aus, der auf die Berge blickt, bei Kaffee und exquisitem Apfelkuchen. Nach einer warmen Dusche, kurz vorm Zubettgehen, werfe ich einen Blick aufs Handy, um die Nachrichten zu überfliegen: In Israel droht Krieg. Grosse Spannungen mit den PalästinenserInnen. Die Lage in der Region ist explosiv. Ich schalte das Telefon aus und blicke durchs Fenster auf das mondbeschienene Tal. Nur noch ein paar Tage die Schweizer Neutralität des Engadiner Tals geniessen. Und dann zurück nach Hause, nach Nahost.
Die bittere Wirklichkeit
Am nächsten Tag, bei einer herrlichen Wanderung durchs Fextal, geniesse ich das Panorama. Der Weg hinunter zu den glitzernden Seen von Sils Maria muss MalerInnen um den Verstand bringen: Wie zum Teufel entscheiden, was man von all der Schönheit auf die Leinwand bannen soll und was nicht? Die Zahl der Blumen ist unfassbar. Es gibt mehr Farben, als das Auge aufnehmen kann.
Die Kleine schlummert in der Rückentrage ein, und zum ersten Mal haben die Erwachsenen Gelegenheit, kurz aufzuatmen und etwas Anspruchsvolleres zu sagen als «Wie macht die Kuh?». Yoav meint, hier hätten Freud und Rilke sicher den berühmten Spaziergang unternommen, in dessen Folge Freud seinen Aufsatz «Vergänglichkeit» verfasste. Zu Beginn dieses schönen Textes schildert Freud einen Spaziergang mit dem jungen Dichter. «Der Dichter bewunderte die Schönheit der Natur um uns, aber ohne sich ihrer zu erfreuen. Ihn störte der Gedanke, dass all diese Schönheit dem Vergehen geweiht war, dass sie im Winter dahingeschwunden sein werde […] Alles, was er sonst geliebt und bewundert hätte, schien ihm entwertet durch das Schicksal der Vergänglichkeit, zu dem es bestimmt war.» Doch Freud fand, gerade das Wissen um die Hinfälligkeit verleihe dem Anblick eine Wertsteigerung: «Wir wissen, dass von solcher Versenkung in die Hinfälligkeit alles Schönen und Vollkommenen zwei verschiedene seelische Regungen ausgehen können. Die eine führt zu dem schmerzlichen Weltüberdruss des jungen Dichters, die andere zur Auflehnung gegen die behauptete Tatsächlichkeit.» Das Schwanken zwischen dem Abfinden mit der bitteren Wirklichkeit und deren Leugnung in dem Wunsch, zu siegen, ist möglicherweise der Kern der seelischen Auseinandersetzung mit dem Tod.
Die Kleine in der Trage wacht auf. Yoav und ich begreifen, dass wir die Diskussion über Alpen, Vergänglichkeit und Tod auf später vertagen müssen. Ich nehme unsere Tochter aus der Trage, und sie versucht, aus eigener Kraft loszustapfen, über die bunte Blumenwiese.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Ayelet Gundar-Goshen
Nach ihrem Psychologiestudium studierte die 1982 geborene Ayelet Gundar-Goshen Film und Drehbuch. Ihr erster Roman, «Eine Nacht, Markowitz», erschien 2013, zwei Jahre später folgte «Löwen wecken» über einen Neurochirurgen, dessen Leben eines Nachts aus der Bahn gerät. Auch ihr neuster Roman, «Lügnerin» (2017), kam beim Zürcher Verlag Kein & Aber auf Deutsch heraus. Es geht darin um eine Verlegenheitslüge, die zu einem Mediensturm anwächst. Gundar-Goshen lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv und arbeitet dort als Schriftstellerin und Psychologin. Vor ein paar Jahren war sie im abgeschiedenen Engadiner Fextal zu Gast.