Grossbrände in Australien: Die Grenzen der Anpassung

Nr. 3 –

Hunderte Millionen Tiere sind den Buschbränden in Australien bereits zum Opfer gefallen. Die Feuer gefährden das Überleben vieler Wildtierarten – wie auch die Lebensgrundlage der FarmerInnen.

«Ich habe noch nie so etwas wie diese Feuer gesehen»: Lorna King rettet und pflegt in Bairnsdale verletzte Wildtiere.

Ihre Sachen stehen immer noch gepackt im Flur: eine Jeans, Unterwäsche, Pass, Geburtsurkunde. Und eine getöpferte Ente, die Lorna King nicht zurücklassen wollte. Es war Nacht, gleich zum Jahresanfang, als die Warnung auf ihrem Smartphone aufblinkte: Die EinwohnerInnen Bairnsdales sollten sich auf die Evakuierung vorbereiten. 15 000 Menschen wohnen in dem Ort im südöstlichen Bundesstaat Victoria, an dessen Stadtgrenze das Feuer angekommen war. King packte das Nötigste. Seit Monaten hatte sie die Geschichten gehört. Von FreundInnen, die so plötzlich vor den Feuern fliehen mussten, dass sie nicht mehr als die Kleider am Körper hatten retten können, oder von anderen, deren Häuser komplett abgebrannt waren. In dieser Nacht habe sie kaum geschlafen. «Wir hätten nichts tun können», sagt sie.

Diesmal ist es anders

Als King knapp eine Woche später in ihrer Küche davon erzählt, ist das Feuer wieder zwanzig Kilometer entfernt. King, eine Frau im Rentenalter, mit bunter Bluse und schnellem Gang, ist in Bairnsdale und mit den Buschfeuern aufgewachsen. Dieses Mal aber sei es anders, die Brände umzingeln die Kleinstadt von fast allen Seiten. «Ich habe noch nie so etwas wie diese Feuer gesehen», sagt King.

Es könnten die grössten Buschbrände sein, die Australien je gesehen hat. Noch nie kamen sie den bewohnten Küstenregionen und Städten so nahe. 28 Menschen sind landesweit seit Beginn der Brände gestorben. Über zehn Millionen Hektaren, eine Fläche, die mehr als doppelt so gross wie die Schweiz ist, sind abgebrannt: Häuser, Ackerland, Wälder, und damit auch Erinnerungen und Heimatbilder, Einkommensquellen. Und Lebensraum für Millionen von Tieren.

Die langfristigen Folgen werden erst nach der Katastrophe sichtbar sein – und die Feuer werden noch eine ganze Weile weiterbrennen laut der Lokalzeitung «East Gippsland News» vom 8. Januar. Der Premierminister Victorias hat den Notstand ausgerufen. Gäste und BewohnerInnen sollen die Grenzgegend östlich von Bairnsdale verlassen.

An diesem Mittag hängen Regenwolken über Bairnsdale. Eine kurze Pause für die Feuerwehrmänner- und -frauen sowie die Gelegenheit, sich auf die nächste Hitzewelle vorzubereiten. Der Rauch hat sich im Wohngebiet, in dem King lebt, verzogen. Rosen umranken den Gartenzaun. Im Hof parkt ihr Dienstwagen mit der Aufschrift «Wildlife Rescue» und einer Telefonnummer.

Lorna King ist so etwas wie eine Krankenschwester für Tiere. AnwohnerInnen rufen sie an, wenn sie ein verlorenes oder verletztes Wildtier finden. Dann steigt King in ihren Wagen, zieht die Warnweste an und fährt in den Busch. Mal fängt sie Tiere ein und bringt sie in eine Tierpraxis, mal tötet sie sie, wenn sie zu schwer verletzt sind. Oft bringt sie die verwundeten Tiere zu sich nach Hause. Die Gemeinde Bairnsdale führt sie als Tierretterin und Schlangenfängerin in einem öffentlichen Register. Aber seit die Brände zu gross geworden sind, kam im Rathaus eine Mitarbeiterin besorgt auf sie zu: Sie solle nicht mehr hinausfahren.

Dabei mache sie das schon ihr ganzes Leben lang, sagt King, während sie Insekten mit dem Küchenmesser zerteilt. Mahlzeit für ihre Mitbewohner: eine Python, eine Nachtschwalbe und acht Nymphensittiche, die King aufgenommen hat, seit das Haus ihrer Freundin abgebrannt ist. Im Eingangsbereich steht ein Fangnetz, in der Küche Käfige und Körbe. Als das Handy auf der Küchentheke vibriert, zieht sie die Brille an. Siebzehn Nachrichten. Seit die Buschbrände kurz vor Bairnsdale angekommen sind, hat die Tierretterin viel zu tun.

Die Tiere, die King und die TierärztInnen in Bairnsdale vorfinden, seien durch die Brände zu Tode verängstigt. Wildtiere kennen die Feuer eigentlich, sie fliehen oder graben sich in die Erde ein. Diesmal aber sei das Ausmass zu gross. King erzählt von Schildkröten, die zu früh aus dem Wasser herauskamen und dabei sofort verbrannten, von Vögeln, die im Rauch die Orientierung verloren. Manchmal konnten die Tiere nur noch eingeschläfert werden. Fragt man King, wie viele wohl betroffen seien, zuckt sie mit den Schultern: «Das weiss keiner.»

Gemäss einer Hochrechnung der Wildtierbestände durch die Universität Sydney von 2009, die im September 2019 bestätigt wurde, lautet ein Anhaltspunkt: 480 Millionen. So viele Tiere könnten allein im Nachbarstaat New South Wales den Buschfeuern zum Opfer gefallen sein. Dabei geht es nur um einen Grossteil der Säugetiere, um Vögel und Reptilien; nicht eingeschlossen sind neben Insekten etwa auch Fledermäuse oder Frösche. Den langfristigen und wirklichen Verlust der Tierwelt kann auch die Universität Sydney nicht beziffern.

Betroffen sind einige stark gefährdete Tierarten. Sechs WissenschaftlerInnen aus Australien warnen auf der Nachrichteninternetplattform «The Conversation», dass mindestens zwanzig und maximal hundert gefährdete Tierarten durch die Feuer vom Aussterben bedroht seien. In einem sind sich die WissenschaftlerInnen einig: Obwohl Nutz- und Wildtiere die Buschfeuer gewohnt sind, gehen die aktuellen Brände weit über die Grenzen der Anpassung hinaus.

Wohin mit dem Vieh?

Wenige Kilometer von Lorna Kings Haus entfernt kümmern Graeme Fullgrabe nicht die Wildtiere im Busch, sondern die Nutztiere an der lokalen Viehbörse. 600 Rinder sind es, die derzeit in den Stallungen eingepfercht sind. Fullgrabe ist Viehhändler und Farmer, trägt ein blaues Hemd und einen Lederhut. Ein Mann, der praktisch denkt: in Viehpreisen und Risikowerten. Jemand, der nicht an den Klimawandel glaubt, dafür aber an pragmatische Massnahmen.

«Die Farmer wollen ihre Tiere loswerden, sie haben kein Futter mehr»: Viehhändler Graeme Fullgrabe in der Viehbörse von Bairnsdale.

Es ist Mittagspause. Fullgrabe gestikuliert mit einem verpackten Sandwich in der Hand, während Vieh verladen wird. MedienvertreterInnen haben auf dem Parkplatz eine Kamera aufgebaut. Auch Fullgrabe hat in diesen Tagen viel zu tun. Die Viehbörse ist eine Art Refugium für Tiere geworden, die vor allem deshalb verkauft werden, weil ihre BesitzerInnen vor den Feuern fliehen mussten. Vor ein paar Tagen seien evakuierte Pferde aus den betroffenen Gebieten eingeliefert worden, sagt Fullgrabe und stemmt die Hände in die Hüften. Die Namensschilder hängen noch an den Gattern. Evakuiert oder verkauft: Dieser Tage bedeutet das hier dasselbe.

Ein Viehlaster rollt an. «Siebzig Rinder direkt aus dem Brandgebiet», sagt Fullgrabe. Er steht auf einer metallenen Brücke, von der man auf alle Ställe blickt. «Hier sind schon ihre Schwestern und Brüder», sagt er und deutet auf Rinder, die sich auf den Boden gelegt haben. Die Feuer hätten sie überwältigt, erklärt er, sie seien müde.

In den nächsten Tagen würden hier bis zu 4000 Tiere stehen, prophezeit Fullgrabe. Nordwind und über vierzig Grad könnten die Feuer wieder anheizen. Er fragt sich, wo die vielen Tiere hingebracht werden könnten. Die FarmerInnen, seine Kollegen und Nachbarinnen, wollten sie loswerden, «sie haben kein Futter mehr». Fullgrabe berichtet von Viehtransportern, die in Autokolonnen feststeckten, und von gesperrten Strassen. Bald würde es sogar zu spät sein, um sie fortzubringen.

Die Regierung Victorias hat einen Notfallplan für die Tiere aufgestellt: Der Victorian Emergency Animal Welfare Plan rät den AnwohnerInnen, die Tiere mit Kontaktdaten zu markieren und genügend Wasser und Futter zur Verfügung zu stellen, falls die Zeit für eine Evakuierung nicht reiche. Seit dem 7. Januar ist ein mobiles Notrettungsteam für Tiere in Bairnsdale stationiert.

Graeme Fullgrabe sagt: «Die Tiere verbrennen sich die Hufe, die Zitzen und die Bäuche.» Manche könnten nur noch eingeschläfert werden, und nicht einmal ihr Fleisch sei noch brauchbar. Die überlebenden Tiere liefen wirr umher. Es gebe keine Zäune mehr. «Die Katastrophe wird die Landwirtschaft Milliarden kosten», sagt Fullgrabe.

Wer wird die Depressionen zählen?

Australiens liberal-konservativer Premierminister Scott Morrison hat den Städten und Farmen umgerechnet über 1,3 Milliarden Franken an Zuschüssen für den Wiederaufbau zugesprochen. Fullgrabe zieht die Schultern hoch: «Die Politiker kommen nur, machen Bilder, schütteln Hände – und nichts passiert. Sie schieben sich die Schuld hin und her.» Sie hätten den FarmerInnen fast 700 Franken geboten, damit sie ihre Häuser verlassen, 300 Franken zusätzlich für jedes Kind.

Fullgrabe lehnte ab, selbst als das Feuer bloss 200 Meter vor seinem Haus loderte. Er hatte vorgesorgt: Bereits kurz vor Weihnachten hatte er all seine Tiere verkauft. Er habe seine 64 Rinder in das «grüne Land» geschickt, sagt er und meint damit das drei Stunden entfernte Melbourne. «Per One-Way-Ticket.» Fullgrabe schaut auf seine Schuhspitzen. Unter der Metallbrücke muhen Hunderte Rinder, er hält sich am Geländer fest. Was das Feuer aufgehalten habe? «Nicht die Feuerwehrleute», sagt er. «Mutter Natur» sei das gewesen, denn der Wind habe im letzten Moment doch noch gedreht.

Auch Fullgrabe verfolgt in den Nachrichten die Zahlen der Toten und Verletzten. Aber er frage sich, wer die Depressionen und die Herzattacken, die erst später kämen, zähle. «Es trifft die Leute psychisch», sagt der Farmer, wenn man tags nicht mehr arbeiten könne und nachts nicht mehr schlafen. Dagegen würden auch die politischen Versprechen der australischen Regierung und alle Spendengalas auf der ganzen Welt nicht helfen.