Fledermäuse: Luftakrobatinnen leben gefährlich
Das Coronavirus stammt höchstwahrscheinlich von Fledermäusen. Muss man sich vor den Tieren fürchten? Ein Besuch bei der einzigen auf sie spezialisierten Tierärztin der Schweiz.
Das kleine Wesen drückt sich in eine Ecke der Kunststoffbox. Katja Schönbächler streift blaue Plastikhandschuhe über und nimmt das Tier vorsichtig heraus. Eine Zwergfledermaus, sagt sie. Behutsam dreht sie es auf den Rücken und zeigt auf den kleinen Penis. Ein Männchen. Die Fledermaus wollte in der Stadt Zürich in einem Haus überwintern. Dann kamen Bagger. Bis die Bauarbeiter merkten, dass hinter der Isolation Fledermäuse schlafen, waren einige Tiere schon zerdrückt. Doch dieses hier hatte Glück. Die Bauarbeiter alarmierten das Fledermausschutz-Nottelefon, und Schönbächler holte das Tierchen ab.
Katja Schönbächler ist die einzige Tierärztin der Schweiz, die sich hauptberuflich um Fledermäuse kümmert. Sie leitet die Notpflegestation der Stiftung Fledermausschutz, die dem Zoo Zürich angegliedert und in einem alten Bauernhaus untergebracht ist. Rund um die Uhr kann man hier anrufen, wenn man eine Fledermaus in Not gefunden hat. Im letzten Jahr kamen fast 3000 Anfragen herein, mehr als je zuvor. Knapp 300 Tiere wurden in der Pflegestation aufgenommen, viele davon verletzt oder sehr geschwächt. Zwei Drittel konnten sie retten, sagt Schönbächler.
Das Gewicht jedes Pfleglings wird regelmässig dokumentiert. Die Zwergfledermaus in Schönbächlers Hand wiegt 3,4 Gramm, ein Stück Würfelzucker ist etwas schwerer. Sachte klappt Schönbächler einen Flügel aus. Das Tier hat eine Spannweite von zwanzig Zentimetern. Im Verhältnis zum Körper haben Fledermäuse viel grössere Flügel als Vögel. Das macht sie zu wahren Akrobatinnen. Manche Arten können Loopings drehen oder rückwärts fliegen. Sie schaffen es, im Fliegen ein Insekt zu fangen und es sich ins Maul zu schieben. Ihre Anatomie ist zwar besonders, doch haben sie Hinter- und Vorderbeine wie jedes Säugetier. Die Flughaut der Fledermäuse wird durch Arme und Beine aufgespannt. Der vordere Teil des Flügels entspricht der Hand. Die Füsse haben fünf Zehen, daran hängen sie beim Schlafen.
Mit Corona sind die Fledertiere plötzlich negativ ins Rampenlicht geraten. Das Virus stammt nämlich mit grosser Wahrscheinlichkeit von einer chinesischen Fledermaus. Im Fachbuch «Bats and Viruses» («Fledermäuse und Viren») findet sich eine lange Liste von untersuchten Tieren, die verschiedene Coronaviren in sich trugen. Viele Funde stammen aus Asien, auf der Liste sind aber auch Deutschland, Bulgarien oder Italien aufgeführt. Man weiss, dass Fledermäuse auch Träger diverser anderer potenziell gefährlicher Viren sein können, zum Beispiel von Ebola.
Könnte das Tier in Schönbächlers Hand gefährlich sein? Sie lacht. Nicht dass sie die Frage blöd fände. Aber die Gefahr geht nicht nur von Fledermäusen aus: «Nie tote Wildtiere berühren», sagt Schönbächler, «nie Kot von toten Wildtieren anfassen!» Weil man nie wisse, ob ein gefährlicher Erreger drinstecke.
Fledermäuse in der Schweiz können etwa Tollwutviren in sich tragen. In der Auffangstation gilt deshalb die strikte Regel: Nur wer gegen Tollwut geimpft ist, darf eine Fledermaus pflegen. In der Schweiz gilt Tollwut als ausgerottet (vgl. «‹One Health› – die Gesundheit von Mensch und Tier» ). Ganz auszuschliessen ist eine Ansteckung trotzdem nicht. «Es ist deshalb sehr wichtig, dass Leute, die eine Fledermaus finden, immer ein Tuch nehmen oder Gartenhandschuhe anziehen», sagt Schönbächler.
Die Zwergfledermaus beginnt plötzlich am ganzen Körper zu zittern. Das komme von den Muskeln, erklärt Schönbächler. Fledermäuse haben die Fähigkeit, im Ruhezustand ihre Körpertemperatur massiv zu senken. Denn Fliegen ist ein höchst energieintensiver Akt. Also muss in der restlichen Zeit so viel Energie gespart werden wie möglich. Den Tag verbringen die Tiere oft in der sogenannten Tagesschlaflethargie, ihre Körpertemperatur liegt nur wenige Grad über der Umgebungstemperatur. Im Winterschlaf kann das bis nahe an den Gefrierpunkt gehen. Bevor sie losfliegen, müssen sie den Körper aufheizen. Schönbächler packt die Zwergfledermaus wieder vorsichtig in ihre Box, bevor sie ihre Normaltemperatur erreicht hat. Sonst würde sie vermutlich gleich versuchen abzuheben.
Sie folgen dem Menschen und leiden unter ihm
Weltweit kennt man 1500 Fledertierarten, 30 davon leben in der Schweiz – sie sind die grösste einheimische Säugetierordnung. Hubert Krättli ist Biologe und Geschäftsführer der Stiftung Fledermausschutz. Bevor er darüber zu sprechen beginnt, was die Fledermäuse bedroht, sagt er einen überraschenden Satz: «Ohne den Menschen gäbe es in der Schweiz nicht so viele unterschiedliche Fledermausarten.» Nur weil der Mensch Häuser baue, könnten Fledermäuse, die sonst im Süden in Höhlen leben, hier ihre Jungen aufziehen. Zum Beispiel die Hufeisennase. Da unsere Höhlen zu kalt sind, nimmt sie die Dachstöcke als Ersatzhöhle.
Fledermäuse haben pro Jahr nur ein Junges. Die Aufzucht findet in Kolonien statt, die riesig sein können – in der Kirche von Fläsch GR leben zum Beispiel an die tausend Mausohrweibchen mit ihren Kleinen. Männchen sind meistens keine dabei.
Andere Fledermäuse gehen auf Reisen. Krättli nimmt als Beispiel den Grossen Abendsegler. Die Weibchen fliegen im Frühling bis ins Baltikum oder nach Russland. Sie bringen ihre Jungen zur Welt und kehren im Spätsommer zurück. Die Männchen bleiben hier und warten im August aufgeregt auf ihre Rückkehr, weil die Balz ansteht. In Zürich lässt sich in der Nähe der Werdinsel gut beobachten, wie sie versuchen, die Weibchen anzulocken. Ein grossartiges Spektakel, sagt Krättli.
Nach der Begattung werden Fledermausweibchen allerdings nicht trächtig. Sie speichern die Spermien im Uterus und gehen in den Winterschlaf. Erst im Frühling wird die Eizelle befruchtet. Eine Eigenart, die man sonst nur von Reptilien kennt.
Abendsegler und Mausohren, zwei Arten, denen der Mensch auf verschiedene Art das Leben schwer macht. Krättli sagt, ein grosses Problem sei etwa, dass immer mehr Kirchtürme nachts beleuchtet würden. Kirchen gehören zu den bevorzugten Unterkünften der Mausohren. Wird nun ein Scheinwerfer direkt auf das Ausflugsloch gerichtet, fliegen sie zu spät oder gar nicht mehr aus und verhungern. Mausohren jagen gern im Wald. Um von ihrem Schlafplatz dorthin zu kommen, folgen sie den dunklen Strukturen in der Landschaft: Hecken, Bäumen, Waldrändern. Wird ein Strassenabschnitt neu beleuchtet, bringt das Licht diese Strukturen zum Verschwinden und wirkt wie eine unüberwindbare Barriere. Die Fledermäuse müssen einen grossen Umweg fliegen, um in ihr Jagdgebiet zu gelangen, was unnötig Energie verbraucht. Mausohren fliegen ausserdem tief, vielleicht einen Meter über dem Boden. Queren sie eine Strasse, kann es passieren, dass sie von einem Auto getötet werden.
Windkraftanlagen bergen gleich mehrere Risiken. Abendsegler traversieren auf ihrem Zug nach Nordosteuropa Tausende solcher Anlagen. Die Rotorblätter sausen wie Fliegenklatschen aus dem Nichts herunter und können die Tiere erschlagen. Man versucht herauszufinden, wann und wo die Fledermäuse ziehen, um in jenen Nächten die Anlagen abzuschalten. Allerdings sei das Wissen über die Fledermauszüge noch bescheiden, sagt Krättli.
In der Schweiz bemüht man sich, die Windanlagen möglichst fledermausfreundlich zu planen. Gewisse Fledermäuse fühlen sich aber von Windrädern förmlich angezogen. Das hat vielleicht damit zu tun, dass der Pfeiler nachts wie ein grosser Baum aussieht und die Fledermäuse nach Baumhöhlen suchen. Man weiss aber auch, dass Insekten nachts auf den höchsten Punkt am Horizont zufliegen. Das führt dazu, dass es rund um die Windräder viele Insekten hat, was die Fledermäuse anlockt.
Bevor eine grosse Windanlage installiert wird, findet man heraus, wie und wann die Fledermäuse in der Gegend aktiv sind. Danach wird ein Algorithmus berechnet, der in jenen Zeiten, in denen die Fledermäuse voraussichtlich jagen, die Windmühlen abschaltet. Der Verlust für die Anlagenbetreiber sei gering, sagt Krättli. Es reicht, wenn die Windturbinen in Phasen mit wenig Wind stillgelegt werden – wenn sie ohnehin kaum Strom produzieren.
Der Bund lässt sich den Fledermausschutz jährlich zwei Millionen Franken kosten. Eine gute Investition, sagt Krättli: «Fledermäuse sind Opportunisten – sie fressen jedes Insekt, das sie erwischen können. Das macht sie zu guten Schädlingsbekämpfern.» US-amerikanische WissenschaftlerInnen hätten versucht, die ökologische Dienstleistung der Tiere in Geld umzurechnen. Man habe die Rechnung auch für die Schweiz gemacht. «Für die zwei Millionen, die der Bund investiert, erhält er einen Gegenwert von über 200 Millionen Franken», sagt Krättli: «Fledermausschutz ist also ein hochrentables Unternehmen.»
Fit für die Freiheit
Zurück bei Katja Schönbächler. Draussen, an der einen Aussenwand des Bauernhauses, ist eine grosse Voliere angebaut. Zwei Holzkästen hängen an den Gittern, grosse Stücke Baumrinde liegen am Boden. Im einen Kasten hängt eine Breitflügelfledermaus. Sie wurde in Scuol gefunden und hierhergebracht. Am nächsten Tag reist sie zurück ins Engadin, um freigelassen zu werden.
Unter einer Baumrinde ruht ein Grosses Mausohr. Es wurde auf der Strasse gefunden, hatte einen verletzten Ellbogen, wurde aufgepäppelt und soll noch an diesem Abend in die Freiheit fliegen. Schönbächler nimmt es hoch. Die Fledermaus öffnet den Mund, man sieht abgewetzte Zähne. Vermutlich sei dieses Tier schon alt, sagt Schönbächler. Fledermäuse können über vierzig Jahre alt werden – sofern sie das erste Lebensjahr überstehen. Das ist die gefährlichste Zeit im Leben einer Fledermaus. Und die strengste für die FledermausschützerInnen. Sie beginnt demnächst. Ende Mai, Anfang Juni kommen die Jungen zur Welt. Immer wieder finden Leute verwaiste Jungtiere und bringen sie in die Notpflegestation. Im letzten Jahr haben sie sich – zusammen mit freiwilligen HelferInnen – um über hundert Babys gekümmert. Die sind oft noch nackt und blind und müssen stündlich mit Milch versorgt werden. Um sie warm zu halten, legt man sie in eine Box mit Wärmeflasche. Doch wenn die PflegerInnen unterwegs sind, packen sie sie in Stoffbeutelchen, die sie auf dem Körper tragen, damit die Kleinen die Wärme spüren. Die Jungtiere entwickeln eine enge Beziehung zu ihrem Pflegemenschen. Doch sobald sie ins Teenageralter kommen, wollen sie nicht mehr angefasst werden. Vier bis acht Wochen nach der Geburt sind sie bereit für die Freiheit. Fliegen und Jagen lernen sie von selbst.
Kein verletztes eingefangenes Wildtier darf länger als drei Monate gepflegt werden, so steht es im Gesetz. Ein Tier, das Schönbächler in dieser Zeit nicht fit für die Freiheit machen kann, muss eingeschläfert werden. Armbrüche seien schwierig, sagt sie, da man nicht schienen kann. Schönbächler würde die Knochen gerne pinnen, wie man das beim Menschen tut. Nur gibt es keine so feinen Nägel. Sie würde manchmal auch gerne von kranken Tieren ein Blutbild machen. Bei einer Zwergfledermaus geht das aber nicht. Das Tier hat nur 0,3 Gramm Blut, da kann sie keine Probe nehmen, ohne es zu gefährden. Sie würde auch kaum eine Vene finden.
Corona ist auch ein Thema auf der Pflegestation, allerdings umgekehrt, als man erwarten würde. Schönbächler sagt: «Unsere grösste Sorge ist, dass wir Pflegenden die Fledermäuse mit Corona anstecken.» Die Fledermäuse könnten nach der Freilassung die Viren in ihre Kolonien hinaustragen. Das wäre das Worst-Case-Szenario, das gelte es auf jeden Fall zu vermeiden. Deshalb tragen hier alle immer Masken.
Tollwut ist übrigens wirklich sehr selten. In den letzten zehn Jahren hat das Schweizer Tollwutzentrum, das jährlich ein bis zwei Dutzend Fledermäuse untersucht, nur in einem einzigen Tier Tollwutviren nachgewiesen.
www.fledermausschutz.ch ; Fledermausschutz-Nottelefon: 079 330 90 90
Überblick über die Fledertiere
Im «Atlas der Säugetiere» sind alle 99 Säugetierarten dokumentiert, die in der Schweiz wild leben – darunter auch die 30 Fledertierarten, die die grösste einheimische Säugetierordnung stellen. Der neue Atlas ist in diesem Frühjahr erschienen und listet detailliert auf, wo welche Fledermäuse leben. Das lässt sich vor allem akustisch feststellen, weil jede Art einen eigenen Ruf hat. Ultraschallgeräte, sogenannte Fledermausdetektoren, sind in der Lage, die Rufe den unterschiedlichen Arten zuzuordnen. Man weiss dann aber nur, dass eine bestimmte Fledermaus in der Gegend unterwegs ist. Vor allem bei Tieren, die bewohnte Gebiete meiden und in Wäldern hoch oben in Baumhöhlen wohnen wie zum Beispiel die Bechsteinfledermaus, hat man keine Ahnung, wie gross deren Population tatsächlich ist.
Roland F. Graf, Claude Fischer (Hrsg.): «Atlas der Säugetiere – Schweiz und Liechtenstein». Haupt Verlag. Bern 2021.