Erwachet!: Zvill, nöd zwenig
Michelle Steinbecks finaler Appell für ein Ja zur Mietwohnungsinitiative
Vor ein paar Jahren las ich auf einer Bühne gesammelte Geschichten aus dem Leben einer Wohnungssuchenden in Zürich. Ich übertreibe sonst wirklich sehr gern, das Hochstapeln ist meine liebste Kunst. Aber an jenem Abend musste nichts dazuerfunden werden; meine letzten Jahre auf zuweilen verzweifelter Wohnungssuche in Zürich waren das reinste «true crime». Das Gelächter war gross, die Verwunderung ebenso. «Ist es wirklich so schlimm?», wurde ich ungläubig gefragt. Nun war es an mir, zu staunen: Schliesslich stand ich vor einer Versammlung der SP, als Pausenclown vor dem Dessert, und das Publikum bestand aus PolitikerInnen, die sich mit sozialen Themen wie Wohnungsnot und überrissenen Mieten doch auskennen sollten.
Seither hat sich etwas getan, und das ist gut so. Es freut mich, dass Frau Badran sagt: «Wenn die SBB ihre Billette etwas erhöht, sind alle empört. Dass die Mieten vierzig Prozent zu hoch sind, wird kaum thematisiert – ein Skandal.»
Warum ist das so? Wen die gestiegene Miete in Bedrängnis bringt, der schweigt beschämt oder die zieht klammheimlich weg. Gerade in Zürich, wo der Neoliberalismus im goldverseuchten Grundwasser zu sein scheint, herrscht der Konsens, dass überteuerte Mieten und Luxusleerstand nun mal zum guten Ruf einer Stadt gehören. Wer es sich nicht leisten kann, ist halt dem Glamour nicht gewachsen. Selbst von Betroffenen hörst du auf einer überfüllten Wohnungsbesichtigung eher den Satz «Das Integrationsmodell Stadt ist vorbei» als «Hier stimmt etwas nicht».
Vielleicht führen ja die Diskussionen um die kommende Abstimmung zu einem Umdenken. Schuld an unbezahlbaren Mieten sind nämlich nicht jene vielen, die zu wenig haben. Das Problem ist nicht zu wenig, sondern zu viel Geld: Die wachsenden Vermögen der wenigen, die nach kapitalistischem Gesetz verlangen, noch gewinnbringend investiert zu werden.
Nun stimmen wir also darüber ab, ob der hochsensible, leicht zu traumatisierende freie Markt ein klein wenig mehr reguliert werden soll – für ein klein wenig mehr Sicherung des existenziellen Grundrechts auf Wohnen. Die Lobby schwingt schon die Apokalypsenkuhglocke und versucht, uns weiszumachen, dass sie die Milliarden doch zumindest im Geiste für alle scheffeln. So rufen die angeblichen VertreterInnen der kleinen Leute: «Von hohen Mieten profitieren alle! Der entfesselte Kapitalismus ist unser aller Freund und Wohltäter!» Schliesslich sind die Big Player im Immobilienbusiness oft Versicherungen und Pensionskassen, die ja irgendwie rentieren müssen. Aber was bringt eine Pensionskasse wie beispielsweise jene von Basel-Stadt, die ihrer eigenen Kundschaft für eine renditesteigernde Totalsanierung kündigt und sie ins Altersheim schickt?
Auch wenn die Initiative hoffentlich angenommen wird, bleibt es ein Skandal: dass sich die Reichsten auf Kosten derer, die Wohnraum mieten müssen, weil sie sich kein Eigenheim leisten können, noch schamlos (und illegal) bereichern. Dass sie sich dazu als philanthropisch aufspielen und offensichtliche Lügen erzählen, ebenso. Es ist an uns, das zu erkennen und richtig abzustimmen. Auch wenn du gerade in einer geheizten Wohnung mit unbefristetem Mietvertrag sitzt: Hier geht es ums allgemeine Interesse. Es spricht nichts gegen gemeinnützigen Wohnungsbau, ausser der Eigennutz der Immo-Lobby.
Michelle Steinbeck zog wegen unbezahlbarer Mieten von Zürich nach Basel, wo sie sich der «Recht auf Stadt»-Bewegung anschloss.