Sexualstrafrecht: «Dieses Urteil ist sehr wichtig»
Seit 2018 gibt es im schwedischen Sexualstrafrecht das Einverständnisgesetz – und damit den Tatbestand der «fahrlässigen Vergewaltigung». Was könnte die Schweiz von den bisherigen Erfahrungen der schwedischen Gerichtspraxis lernen? Ein Gespräch mit der schwedischen Juristin Hedvig Trost.
WOZ: Frau Trost, in Schweden hat das Oberste Gericht letzten Juli erstmals einen Mann wegen «fahrlässiger Vergewaltigung» verurteilt. Was soll das sein?
Hedvig Trost: Eine Vergewaltigung wird in Schweden als fahrlässig eingestuft, wenn man nicht beweisen kann, dass sich der Täter voll bewusst war, dass das Opfer eine sexuelle Handlung nicht will. Es reicht, wenn man nachweisen kann, dass der Täter in Betracht zog, dass das Opfer nicht einverstanden war. Das ist ein neuer Tatbestand, den es seit der Einführung des Einverständnisgesetzes im Juli 2018 gibt.
Das Einverständnisgesetz ist auch bekannt als «Ja heisst Ja»-Lösung. In der Schweiz löst dieser Grundsatz viel Skepsis aus. Erklären Sie uns, worum es genau geht.
Es geht um eine neue Prämisse: Die freiwillige Teilnahme am Geschlechtsverkehr steht nun bei der Beurteilung von potenziellen Sexualverbrechen im Zentrum. Für den Tatbestand einer Vergewaltigung braucht es keine Drohung oder Nötigung mehr, keine Gewalt. Neu sind also auch Verurteilungen möglich, wenn sexuelle Handlungen zwar gewaltfrei, aber gegen den Willen des Opfers passieren. Der Strafbestand der fahrlässigen Vergewaltigung ist in solchen Fällen leichter beweisbar, das Strafmass aber auch kleiner.
Wie muss man den Entscheid des Obersten Gerichts einordnen?
Das Gericht sagt damit: Das Gesetz funktioniert, wir können damit arbeiten. Im Gesetz steht, dass es für einvernehmlichen Sex ein Zeichen des Einverständnisses braucht. Das Gericht hat nun erstmals bestätigt, dass in Unterwäsche zusammen in einem Bett zu schlafen, nicht als ein solches Zeichen gewertet werden kann. Im Gegensatz zu den unteren Instanzen, die gar auf Vergewaltigung entschieden hatten, wertete das Gericht den Fall als fahrlässige Vergewaltigung.
Im vorliegenden Fall geht es um einen 27-jährigen Mann, der bei einer Frau übernachtete. Sie hatte ihm vorher gesagt, dass sie keinen Sex wolle …
Ja! Und die beiden hatten keine Beziehung zueinander. Sie kannten sich über eine Datingplattform und trafen sich zum ersten Mal. Er kam aus einer anderen Stadt. Sie bot ihm an, bei ihr zu übernachten, neben ihr im Bett. Sagte ihm davor aber klar, dass sie nicht mit ihm schlafen wolle. Sie drehte sich also weg von ihm, versuchte einzuschlafen. Da fing er an, sie zu berühren, steckte irgendwann seine Finger in ihre Vagina – schliesslich auch den Penis. Sie war zu geschockt, um sich zu wehren, gab aber die ganze Zeit kein Zeichen des Einverständnisses und war völlig passiv. Unter dem alten Gesetz wäre das nicht als Vergewaltigung gewertet worden. Deshalb ist das Urteil so bedeutend.
Dass es für einvernehmlichen Sex eindeutige Einwilligungszeichen braucht und gibt – so viel ist klar. Aber wie soll man vor Gericht beweisen, dass jemand diese Zeichen nicht gab?
Vergewaltigungen sind immer sehr schwierig nachzuweisen – vor allem bei Fällen ohne Gewalteinwirkung. Das Grundproblem ist, dass man oft nur die Aussagen der Involvierten hat. Aber im erwähnten Fall stimmten diese fast überein. Der Täter stritt gar nicht ab, dass sie vor dem Zubettgehen gesagt hatte, keinen Sex zu wollen. Auch nicht, dass sie passiv war. Aber er sagte, dass er dennoch gehofft habe, auch sie wolle den Sex. Sie habe leicht die Hüften bewegt, das habe er als mögliches Signal in diese Richtung wahrgenommen. Und es gab zusätzliches Beweismaterial in Form der vor dem Treffen geführten Chats. Nur gestützt auf die Aussagen von Opfer und mutmasslichem Täter werden sehr selten Vergewaltigungsurteile gefällt.
Wenn der Täter behauptet hätte, sie habe eingewilligt, wäre das Urteil ein anderes?
Wenn er gesagt hätte, dass sie aktiv gewesen sei und den Sex gewollt habe, wäre der Beweis zumindest viel schwerer zu erbringen gewesen. Es kommt dann darauf an, wie kohärent die Aussagen der Involvierten sind, ob sich einer der beiden in Widersprüche verstrickt. Doch in der Regel wird auch mit dem neuen Gesetz nicht angeklagt, wenn Aussage gegen Aussage steht und es sonst keinerlei Beweise gibt.
Das neue Gesetz ändert nichts am grundlegenden Problem der schlechten Beweisbarkeit von Vergewaltigungen.
Nein. Deshalb hat man auch nicht damit gerechnet, dass es zu markant mehr Verurteilungen führen würde. Man verfolgte mit der Einführung primär präventive Ziele. Doch nun zeigt sich, dass gerade der Tatbestand der fahrlässigen Vergewaltigung einen klaren Effekt hat. Dass also in manchen Fällen die fehlende Einwilligung beweisbar ist. Das ist sehr interessant. Doch auf genauere Erkenntnisse warten wir noch: Es laufen derzeit zwei Untersuchungen zu den Anzeigen, Verfahren und Urteilen seit Einführung des Gesetzes.
Wenn es um Einwilligung zu Sex geht, gibt es immer auch Grauzonen: Ein Paar liegt im Bett. Er streichelt sie am Rücken, sie dreht sich leicht ab, er macht im Versuch, sie zu Sex zu überzeugen, weiter. Ab wann sind wir im strafbaren Bereich?
Meist ist es nicht so kompliziert. Aber klar, sobald es um Fälle geht, die sich innerhalb einer Beziehung abspielen, wird es schwieriger. Denn da könnte man ja davon ausgehen, dass das Gegenüber Sex mit einem nicht grundsätzlich abgeneigt sei. Ich frage mich, ob es in diesen Fällen nicht doch ein Nein bräuchte. Bislang wurde kein solcher Fall verhandelt, sie kommen auch weniger zur Anzeige. Aber ich hätte zu dieser Frage gerne eine Klärung des Obersten Gerichts.
Kritiker befürchten, dass die «Ja heisst Ja»-Lösung zu einer Umkehr der Beweislast führt: Um nicht verurteilt zu werden, müsse der Angeschuldigte beweisen, dass er das Einverständnis des Gegenübers erhalten habe.
Der Angeschuldigte muss gar nichts beweisen. Beweisen muss alles die Anklage. Was stimmt, ist, dass die Aussage des Beschuldigten heute wichtiger ist als früher. Schliesslich musste man ihm früher nachweisen, dass er Gewalt angewandt hat. Heute muss man ihm nachweisen, dass er den Willen des Gegenübers missachtet hat. Der mutmassliche Täter muss also genauer erklären, wie er die Situation wahrgenommen hat.
Warum hat sich Schweden nicht wie Deutschland für die «Nein ist Nein»-Lösung entschieden? Wäre diese nicht praktikabler?
Die «Nein heisst Nein»-Lösung würde viele Fälle nicht erfassen. Und sie schiebt die Verantwortung nach wie vor auf das Opfer ab, das sich gegen eine Vergewaltigung wehren oder zumindest Nein sagen muss. Das Einverständnisgesetz fördert die sexuelle Selbstbestimmung, indem wir damit sagen: Selbstverständlich braucht es für sexuelle Handlungen ein Ja. Sex ist ein Akt des freien Willens und andernfalls ein Verbrechen. Ganz konkret geht es etwa um sogenannte Überraschungstaten. Nehmen wir ein Festival: Im Konzertgedränge drängt sich von hinten ein Mann an eine Frau und schiebt den Finger in ihre Vagina. Solche Fälle gibt es. Da kannst du nicht Nein sagen, weil du den Täter ja nicht einmal kommen siehst. Oder die Passivitätsfälle: Inzwischen wissen wir aus der Forschung, dass sich viele Betroffene nicht wehren, weil sie nicht wissen, was die Konsequenzen wären. Ob sie etwa heftig verprügelt würden. Sie schützen sich.
Glauben Sie, dass das Gesetz auf lange Sicht Vergewaltigungen verhindern kann?
Ja, das war auch der Hauptgrund für die Einführung. Es geht um den normativen Effekt des Einverständnisprinzips. Es darf nicht mehr sein, dass ein Täter sich nicht um den Willen des Gegenübers kümmert, weil sein Interesse, Sex zu haben, wichtiger ist als ihre sexuelle Selbstbestimmung. Ich rede jetzt hier immer von Männern als Tätern und Frauen als Opfern. Natürlich kann es auch umgekehrt sein, aber meist halt eben nicht.
In der Schweiz sind wir weit weg von einem Diskurs wie in Schweden. Hat bei Ihnen das Gesetz zu einem gesellschaftlichen Umdenken geführt – oder ist es vielmehr ein Resultat davon?
Dem Gesetz ging in Schweden ein zwanzigjähriger Prozess voraus. Es brauchte drei politische Vorstösse. NGOs haben sich stark für das Thema engagiert und darüber aufgeklärt, wie Opfer reagieren und wie «victim blaming» – also dem Opfer eine Mitschuld zu unterstellen – funktioniert. Eine wichtige Rolle spielten auch die Medien. Kürzlich war ich mit einer Kollegin in Japan, um mit Leuten aus der Politik und der Zivilgesellschaft über das schwedische Modell zu reden. Dort ist die Debatte aber noch viel weniger weit.
Inwiefern?
In Japan spricht man praktisch nicht über Sex. Und es wird extrem viel «victim blaming» betrieben. Das führt dazu, dass Vergewaltigungen tabuisiert werden. In Japan gab es letztes Jahr bei einer Bevölkerung von 125 Millionen 1400 Anzeigen wegen Vergewaltigung. In Schweden leben 10 Millionen, und es wurden 8000 Vergewaltigungen angezeigt. Über Sex und Selbstbestimmung zu reden, ist enorm wichtig. In Schweden wird schon im Kindergarten über körperliche Selbstbestimmung gesprochen. In Japan passiert die Aufklärung erst an der Universität, also mindestens zehn Jahre zu spät. Gesetze zu ändern, reicht nicht – es braucht viel mehr.
Würden Sie sagen, dass sich das neue Gesetz in Schweden bereits bewährt hat?
Es braucht natürlich Klärungen, etwa bei der Frage, wo genau man die Grenze zur fahrlässigen Vergewaltigung zieht. Aber das ist bei jedem neuen Gesetz so. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass wir irgendwann wieder zum alten System zurückkehren. Ich denke vielmehr, dass der Grundsatz des Einverständnisses irgendwann völlig selbstverständlich sein wird.
Die ehemalige Richterin Hedvig Trost (51) ist Bürochefin der Rechtsabteilung der schwedischen Strafverfolgungsbehörde.
Der Stand in der Schweiz
In der Schweiz wird derzeit kontrovers über das Sexualstrafrecht diskutiert. Heute macht sich wegen Vergewaltigung erst strafbar, wer eine Person «zur Duldung des Beischlafs nötigt, indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht». Der Bundesrat will die Straftatbestände geschlechtsneutral ausformulieren und neu auch «beischlafähnliche» Handlungen als Vergewaltigung taxieren – etwa Anal- oder Oralverkehr. Dazu will er die Mindeststrafen anpassen. Daran, dass erst von einer Vergewaltigung gesprochen werden kann, wenn jemand zum Sex mit Gewalt oder Druck genötigt wird, will er festhalten.
Die Ständeratskommission hat die Beratung der Vorlage kürzlich auf nächsten Sommer verschoben. NGOs wie Amnesty International fordern, dass sich die Schweiz am schwedischen Modell orientiert oder zumindest eine «Nein heisst Nein»-Lösung einführt.