Corona in Russland: Schönes neues Moskau
Wie die Regierung die Pandemie zum Anlass nimmt, um die digitale Überwachung voranzutreiben.
Voll im Trend oder sogar eine Nasenlänge voraus – so präsentiert sich Moskau als Hightechmetropole der Zukunft. Die Digitalisierung ist in der russischen Hauptstadt im vergangenen Jahrzehnt um Längen weiter vorangeschritten als mancherorts in westlicheren Gefilden. Bis zum Jahr 2030, so sieht es das Konzept der «Smart City» vor, sollen die digitalen Technologien weit genug ausgebaut sein, um zentralisierte, vereinfachte und transparente Verwaltungsabläufe in ungeahntem Ausmass zu etablieren. Die vermeintliche Quintessenz dieser schönen neuen digitalen Welt: gesteigerte Lebensqualität, Selbstverwirklichung in praktisch allen Lebenssphären, Sicherheit, Wohlstand und ein durchdachtes und effektives Gesundheitswesen.
Überdimensionaler Verhörraum
So verspricht es zumindest Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin, die treibende Kraft hinter dem ambitionierten Projekt. Viele Komponenten finden bereits Anwendung – wie etwa das Portal «Aktiver Bürger», das die Meinung der Bevölkerung rund um Themen zur Stadtentwicklung abfragt. Dabei werden etwa WohnungseigentümerInnen – deren Apartments im Rahmen eines gigantischen Umbauprojekts abgerissen werden sollen – angehalten, ihr Votum abzugeben.
Am liebsten sähe es die Stadtregierung wohl, wenn künftig alle öffentlichen Debatten, BürgerInnenanhörungen und Abstimmungen in die konfliktärmeren virtuellen Räume verlegt würden. So mag zwar die durch Covid-19 verbundene Ansteckungsgefahr bei Grossanlässen aktuell dafür gute Argumente liefern, doch dies ändert nichts daran, dass das Virus lediglich zu einer Beschleunigung ohnehin bereits laufender Prozesse beiträgt.
Online lassen sich zwar mit wenigen Klicks und ohne lange Anfahrtswege zu beliebiger Tageszeit bürokratische Angelegenheiten regeln oder Arzttermine vereinbaren – doch was die Stadt als bequemes Modell anpreist, gleicht einem überdimensionierten Verhörraum mit einer Glasscheibe, die nur einer Seite Durchsicht gewährt. Die digitalen Daten werden haufenweise gesammelt, gespeichert und analysiert.
Zurzeit verfügt die Moskauer Verwaltung über rund 170 unterschiedliche Informationssysteme, die ihr weitreichende Einblicke verschaffen – sei es in Sachen Kanalisation, Verkehr oder Zustand der Kinderspielplätze. Im Fokus der Behörden steht aber letztlich das Individuum und sein nicht unbedingt konformes Verhalten, das nun mit künstlicher Intelligenz gezähmt werden soll.
Über 175 000 Überwachungskameras wurden bislang im öffentlichen Raum Moskaus installiert, mehr als 100 000 davon sind mit Gesichtserkennung ausgestattet. Seit Januar liefert das System per Algorithmus in Rekordzeit Rückschlüsse auf den Aufenthaltsort gesuchter Personen. Und bereits seit 2015 hat die Stadt Zugriff auf anonymisierte Bewegungsprofile von weiten Teilen der Bevölkerung, denn die Mobilfunkanbieter verkaufen der Regierung die entsprechenden Daten der AbonnentInnen.
China als Vorbild
Nach der Verhängung der Quarantänepflicht bei Covid-19-Verdacht im März veranlasste die Stadtverwaltung in Kooperation mit der Polizei zudem die gezielte Überwachung betroffener Personen. Doch über diese internen Abläufe erteilen die Behörden keine Auskunft. Klar ist, dass sich die Stadtverwaltung auf eine ungeheuerliche Datenmenge stützt, die sie sich im Zeitraum der verordneten Selbstisolation gesondert zunutze gemacht hat. So sah Bürgermeister Sobjanin zwar etwa von einem digitalen Genehmigungsverfahren für das Verlassen der Wohnung ab, doch führte er ein elektronisches Passierscheinsystem für Fahrzeuge und den öffentlichen Nahverkehr ein, das nun fast zwei Monate in Betrieb war – und bei Bedarf sofort wieder einsatzbereit ist.
Erschreckend schnell setzte bei vielen MoskauerInnen ein Gewöhnungseffekt ein. Öffentliche Kritik gab es vergleichsweise wenig; diese konzentrierte sich vielmehr auf das «social monitoring» – eine App zur Kontrolle der häuslichen Quarantäne. Die App überprüfte anhand von Selfies, ob die Quarantäne eingehalten wird, und forderte bis zur Einrichtung einer Sperrzeit sogar Selfies mitten in der Nacht an. Die Bilanz: 54 000 Bussgeldbescheide bei insgesamt 67 000 registrierten UserInnen. Nicht wegen massenhafter Regelverstösse, sondern weil sich die App schlichtweg als fehlerhaft und untauglich erwies.
Die städtische Abteilung für Informationstechnologie sieht das indes anders. Vom Experiment inspiriert, schlug das Innenministerium Ende Mai vor, die Einführung einer App für ArbeitsmigrantInnen zu prüfen. Mit umfangreichen digitalen Profilen, die jederzeit abgefragt werden können, soll dabei nach chinesischem Vorbild ein «Social Scoring System» aufgegleist werden.
Bürgermeister Sobjanin wird höchstens noch von einem übertrumpft: von Premierminister Michail Mischustin. Noch in seinem vorherigen Amt als Chef der Steuerbehörde trieb Mischustin die Schaffung eines landesweiten digitalen, zentralen Personenregisters voran. Am 8. Juni, dem Tag, als die Moskauer Ausgangsbeschränkungen aufgehoben wurden, segnete Präsident Wladimir Putin das entsprechende Gesetz ab.