Asylpolitik: «Zürich könnte 800 Menschen aufnehmen»
Karin Keller-Sutter stellt sich taub, doch die Städte lassen sich nicht beirren: Sie machen weiter Druck für die sofortige Evakuierung von Geflüchteten aus Lesbos.
Der Appell aus der Metropole klingt dringlich, und er ist deutlich. «Zürich fordert umgehend eine nationale Konferenz zur Direktaufnahme Geflüchteter», lässt die Stadt am 10. September verlauten. Einen Tag zuvor ist auf der griechischen Insel Lesbos das Flüchtlingslager Moria praktisch komplett abgebrannt, fast 13 000 Menschen stehen vor dem Nichts. Zahlreiche Städte und Gemeinden seien bereit, Menschen aus Moria aufzunehmen, heisst es in der Mitteilung der Stadt weiter. Es liege nun beim Bund, «dieses Angebot endlich zu nutzen».
Neben Zürich gehören auch Bern, Basel, Lausanne, Genf, Winterthur, St. Gallen und Luzern mit ihren insgesamt fast 1,5 Millionen EinwohnerInnen der «Koalition der Willigen» an. Und während die acht grössten Schweizer Städte (nicht zum ersten Mal) nach einer aktiveren Rolle in der Flüchtlingspolitik verlangen, tragen in den Tagen nach dem Brand Tausende Menschen im ganzen Land weitreichendere Forderungen auf die Strasse: Sie wollen, dass die Lager auf allen fünf griechischen Ägäisinseln evakuiert werden. Dasselbe hatten im April schon weit über hundert Organisationen und rund 50 000 Menschen in einem Appell verlangt.
In St. Gallen besetzt ein Kollektiv, das sich «Solidarische Menschen» nennt, in diesen Tagen symbolisch drei leer stehende Häuser. Die Stadt hätte mehr als genug Platz, um Geflüchtete aus Moria unterzubringen, so die Botschaft. Beeindrucken lässt sich der Bund von dem ganzen Engagement nicht.
Schon wenige Stunden nach der Forderung aus den Städten erteilt Justizministerin Karin Keller-Sutter dem Anliegen eine Absage. Überaus wortreich erklärt sie, warum sie nichts für die Menschen aus Moria tun kann: Zwar sei die Situation auf Lesbos durchaus «besorgniserregend», gibt die FDP-Bundesrätin im SRF zu. Doch erstens stehe für die Schweiz die Hilfe vor Ort im Vordergrund – die Lieferung von Zelten und Decken, die Entsendung von Personal. Und zweitens gebe es für den Wunsch der Städte «keine rechtliche Grundlage».
Kaum Verständnis für den Bund
Zwei Wochen später ist der Unmut der Städte, die ihre Hilfe anboten, aber ungehört blieben, nur grösser geworden. Sie sei enttäuscht von Bundesrätin Keller-Sutter, sagt die St. Galler Sozialvorsteherin Sonja Lüthi. Für die GLP-Politikerin steht das Zögern des Bundes nicht in Einklang mit der humanitären Tradition der Schweiz: Man könne dem Elend auf Lesbos nicht einfach tatenlos zuschauen und auf die EU verweisen, sagt sie. Und: «Es reicht definitiv nicht, in der jetzigen Notlage zwanzig Kinder aufzunehmen.»
Zwanzig: Im Anschluss an den Brand in Moria hatte der Bundesrat angekündigt, so viele unbegleitete Kinder und Jugendliche aus Lesbos in die Schweiz zu holen. Wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage mitteilt, seien diese aber noch nicht eingetroffen. «Ein Datum für die Ankunft steht noch nicht fest.»
Auch Sonja Lüthis Zürcher Kollege Raphael Golta hat für das Verhalten des Bundes wenig Verständnis: «Dass man nicht auf das Angebot der Städte eingeht und stattdessen komplett auf stur schaltet, kann ich nicht nachvollziehen.»
Die Haltung des Bundes empfindet Golta als zynisch: «Man scheint sich zu denken: Wir brauchen in Griechenland leidende Menschen als Abschreckung, damit nicht noch mehr kommen.» Damit mache man die Geflüchteten auf Lesbos zum Puffer zwischen den Europäern und weiteren Flüchtenden. «Und die Schweiz will bloss nicht der Musterknabe sein, dabei könnte sie durchaus auch einmal als Vorbild vorangehen», findet der SP-Politiker.
Kein rechtliches Hindernis
Wie viele Menschen wäre Zürich denn bereit zu empfangen? «Wir orientieren uns am Jahr 2015, als wir innert zwei Monaten 800 Personen aufgenommen haben», sagt Golta. Heute wäre man dazu ebenfalls in der Lage. «Man kann wahnsinnig viel, wenn man nur will.» Vergangene Woche sagte der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried dem Onlinemagazin «Republik», die Schweiz könne problemlos sofort 500 Personen aus Moria aufnehmen.
Dem Einwand von Justizministerin Keller-Sutter, wonach es für die Aufnahme Geflüchteter keine rechtliche Grundlage gebe, widersprechen Raphael Golta wie Sonja Lüthi. Es habe nie jemand bestritten, dass der Bund dafür zuständig sei, sagt der Zürcher Sozialvorsteher. «Dass wir nicht autonom handeln können, wissen wir, sonst hätten wir schon längst einen Flug gechartert und müssten gar nicht mit dem Bund reden.» Es gebe allerdings auch kein rechtliches Hindernis für den Bund, Leute aufzunehmen.
Viele Möglichkeiten zur Aufnahme
Und wie beurteilen Fachleute die juristische Grundlage? Grundsätzlich sei der Bund für die Einreise zuständig, bestätigt Manuela Hugentobler, Geschäftsführerin beim Verband Demokratische JuristInnen Schweiz. Allerdings heisse das keineswegs, dass er nicht handeln könnte. Vielmehr stünden den nationalen Behörden mehrere Wege zur Verfügung: Das SEM könne etwa die strengen Kriterien für humanitäre Visa lockern und so deren Erteilung vereinfachen. «Mit dieser Möglichkeit wird besonders gefährdeten Personen eine legale Einreise in die Schweiz ermöglicht, wo dann ein Asylgesuch gestellt werden kann», so Hugentobler. Bei positivem Bescheid würden die Menschen dann auf die Kantone und schliesslich auf die Gemeinden verteilt.
Dem Bund stehe es dabei frei, den heute existierenden Verteilschlüssel so anzupassen, dass jene Städte, die Menschen aus Lesbos aufnehmen wollen, dies auch tun können, sagt die Zürcher Migrationsanwältin Stephanie Motz. Sie bringt zudem zwei weitere Möglichkeiten ins Spiel: das europäische Dublin-Recht sowie das Schweizer Asylgesetz.
Jeder Dublin-Staat könne «aus humanitären Gründen» Personen übernehmen, die in einem anderen Land im Asylverfahren stecken, und dieses in der Schweiz zu Ende bringen. Zudem sei ein Resettlement möglich, wenn der Erstaufnahmestaat – in diesem Fall Griechenland – nicht sicher sei. «Angesichts der Situation auf Lesbos ist diese Voraussetzung aus meiner Sicht erfüllt», so Motz. Der Bundesrat habe bereits mehrfach aus eigener Kompetenz Resettlement-Programme verabschiedet, etwa für Geflüchtete aus Syrien.
Auch «humanitäre Gründe» für die Erteilung entsprechender Visa hält Motz für gegeben. «Im Gesetz ist der Begriff der humanitären Gründe offen formuliert. Eine Pandemie, die sich in einem geschlossenen Lager ausbreitet, ohne dass sich die Bewohner schützen können, ist für mich durchaus so ein Grund.»
Bewegung im Parlament
Inzwischen ist der Brand von Moria zwei Wochen her. Das neue Camp Kara Tepe steht bereits, erbaut auf einem ehemaligen Schiessübungsplatz des Militärs und umringt von Nato-Stacheldraht. Rund 10 000 Geflüchtete haben nach offiziellen Angaben darin Platz gefunden, NGOs vor Ort berichten, dass die Menschen teils gewaltsam ins Lager gezwungen wurden. Zudem sollen die Behörden Flyer verteilt haben, auf denen sie den Geflüchteten mitteilten, dass nur die Asylverfahren der BewohnerInnen des neuen Camps bearbeitet würden. Die Krise auf Lesbos sei damit beendet, erklärte der griechische Migrationsminister vor einigen Tagen im Fernsehen.
Auch wenn die Aussicht auf Erfolg zurzeit gering ist, will die Koalition der Städte, zu der inzwischen auch Delémont und Fribourg gehören, nicht aufgeben. «Ich höre von immer mehr Gemeinden, die einen Beitrag leisten wollen», sagt die St. Galler Sozialvorsteherin Lüthi. Auch die Menschen auf der Strasse stützten das Anliegen der Städtekoalition. «Wir werden weiter dranbleiben, unsere Forderung noch breiter abstützen», verspricht sie. Weitermachen möchte auch Raphael Golta. «Wir wollen den Dialog mit der Zivilgesellschaft forcieren, Allianzen stärken. Wir sind bereit, erwarten vom Bund aber auch, dass man uns machen lässt und unsere Bedürfnisse und Interessen ernst nimmt.»
Bewegung in die Sache könnte derweil auch auf Bundesebene kommen. Nach dem Nationalrat hat am Mittwoch auch der Ständerat eine Motion der Staatspolitischen Kommission angenommen, die ebenfalls die Aufnahme Geflüchteter aus Griechenland fordert. Wie lange will Karin Keller-Sutter also noch warten, bis sie zu einem Flüchtlingsgipfel lädt?