LeserInnenbriefe

Nr. 45 –

Horizonte

Verschiedene Artikel, WOZ Nr. 42/2020

An der WOZ schätze ich, nebst dem kritischen Journalismus, dem überzeugenden Wertekompass, der klaren Haltung und der gepflegten Sprache, insbesondere den weiten Horizont. Selbst bei Schweizer Themen kommt immer wieder eine globale Perspektive hinzu. Allerdings wird meines Erachtens etwas gar oft eine Stufe übersprungen: Der Blick schweift in die Welt, vergisst aber mit schöner Regelmässigkeit die übrigen Sprach- und Kulturregionen der Schweiz.

Hier ein paar Beispiele aus der Ausgabe vom 15. Oktober. Warum nicht auch eine Person in der Ajoie oder im Val Müstair nach ihren Gründen fragen, die Kovi-Fahne aufzuhängen? Schön, dass die Linken in der Stadt Biel zulegten, aber wie sieht es aus mit den in der dortigen Politik massiv untervertretenen Französischsprachigen? Oder beim doppelseitigen Schwerpunkt über die SRG: Da wird lesenswert über die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft räsoniert, und doch geht es in zwei der drei Beiträge ausschliesslich um (D)SRF. Andreas Fagetti spricht von einer «nationalen Marke», um sie dann quasi mit deren deutschsprachigem Ableger gleichzusetzen. Spannend wäre doch auch zu erfahren, wie es in den französischen, italienischen und romanischen Redaktionen aussieht. Denn erst durch sie wird die SRG zu einem landesweiten Medium.

Grundsätzlich: Bern, Baden und Basel sind gewiss interessant, aber Lausanne, Lugano und Lumbrein sind es ebenso – nicht nur, wenn es um negative Schlagzeilen geht. Meint ein Tessiner, der die WOZ fleissig und stets mit grösstem Gewinn liest.

Marco Volken, schon lange in Zürich

Ungenauigkeiten

«Durch den Monat mit Veronika Kracher (Teil 4)», WOZ Nr. 43/2020

Frau Krachers Antworten enthalten meiner Meinung nach einige Ungenauigkeiten. Zitiert wird Rolf Pohl und die Ansicht, dass der Mann mit der Erfahrung aufwächst, von der Mutter abhängig zu sein. Dies mag bei allen Menschen zutreffen, aber falls eine Loslösung aus dieser Abhängigkeit nicht gelingt, wird das auch bei Frauen zu Störungen führen. Was hier ausgelassen wird: In unserer gegenwärtigen Welt spielt ja gerade das Prinzip des Vaters – das Gesetz – eine ebenfalls wichtige Rolle (vgl. Jacques Lacan: «Im Namen des Vaters»). Hier könnte sich wiederum «der Mann» besser identifizieren, was zu einer Kränkung «der Frau» führen könnte. Hier sieht man schon das Problem: Solange wir mit den zwei Gruppen «Frauen» und «Männer» argumentieren, kommen wir in eine Sackgasse, so werden ja die unliebsamen Stereotype gerade rekonstruiert! Zudem bringt Frau Kracher ein persönliches Beispiel für einen nach ihrer Ansicht unglaubwürdigen kritischen Mann, um zu demonstrieren, dass ihre Theorie der narzisstischen Kränkung stimme. Solche persönlichen Beispiele sind reichlich unwissenschaftlich – stellt das gerade diese Selbstbezeichnung infrage? Eine weitere Verwechslung finden wir in der letzten Antwort: Hier wird unterstellt, dass Männer einen Phallus haben. Das ist falsch. Männer haben einen Penis, keinen Phallus. Phallus ist ein Symbol für Macht/Kraft und kein Körperteil. Es ist ein Irrtum, wenn man meint, dass Männer dieses Symbol aufgrund ihres Penis einfach besitzen.

Dominique Zimmermann, Philosophin, Basel

Nicht so homogen

«Verschwörungsdemos: Das braune Erbe der Esoterik», WOZ Nr. 41/2020

Ich habe eine kleine Kritik am Artikel von Sarah Schmalz. Frau Schmalz zeigt gut auf, dass die Esoterik ein faschistisches, antisemitisches, rassistisches Erbe hat. Jedoch ist die Gruppe der Coronaleugner in ihrer Ideologie noch lange nicht so homogen, wie das Frau Schmalz nahezulegen scheint. Die Aussage «Und doch demonstriert hier in erster Linie eine Szene mit gemeinsamem Nenner» entspricht meiner Meinung nach nicht der Wahrheit.

Ich war ebenfalls an dieser Demo, und zwar im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Basel. Wir haben dort mit vielen Teilnehmenden gesprochen, ethnografische Beobachtungen gemacht und Flyer für Onlineumfragen verteilt.

Wenn ich den Artikel von Frau Schmalz lese, habe ich das Gefühl, alle an der Coronademo seien EsoterikerInnen und alle EsoterikerInnen seien rechts. Das lässt sich aus meiner Sicht so nicht sagen. Die Gruppe der Demonstrationsteilnehmenden ist meiner Beobachtung nach ideologisch ziemlich heterogen. Natürlich gab es Vertretende von rechtsradikalem Gedankengut (zum Beispiel das «Compact Magazin»), aber es gab eine beträchtliche Gruppe von Personen, die nicht zwingend «rechts» zugeordnet werden können. Genau diese Menschen sind aber gefährdet, nach rechts zu rutschen, wenn man sie schon von vornherein so abstempelt.

Es ist mir wichtig, zum Schluss noch anzumerken, dass ich nicht im Namen der Universität Basel oder unserer Forschungsgruppe schreibe, sondern dass alle meine hier gemachten Aussagen meine persönliche Meinung darstellen.

Lisa Kwasny, per E-Mail

Kein Vorzeigeland

«Zweite Welle: ‹Wie Kugeln auf einem Billardtisch›», WOZ Nr. 44/2020

Ich erachte es als irreführend, die Tschechische Republik als Vorzeigeland aufzuführen, weil dort früh die Maskenpflicht eingeführt wurde. Offenbar wurde die Maskenpflicht genauso schnell wieder abgeschafft. Am 28. August galt mit Ausnahme von in der U-Bahn keine Maskenpflicht. Die Bestimmungen in Deutschland waren zu diesem Zeitpunkt viel restriktiver, die Maskenpflicht wurde im Gegensatz zur Tschechischen Republik in öffentlichen Räumen, Gaststätten et cetera nicht aufgehoben.

Die Aussage von Herrn Giebel impliziert, dass die Maskenpflicht nicht dazu beiträgt, die Verbreitung zu minimieren. Die Bundesrepublik Deutschland hat heute im Vergleich zur Tschechischen Republik und zur Schweiz den geringsten Inzidenzwert.

Bernhard Luginbühl, per E-Mail

Anmerkung der Redaktion: In Tschechien wurde die im Juli aufgehobene Maskenpflicht in Innenräumen von Geschäften und Behörden sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln ab dem 1. September wieder eingeführt.

Debatte aktiv gestalten!

«Coronastress: Im Zweifel debattieren», WOZ Nr. 43/2020

Durchaus sympathisch, wie sich die WOZ-Redaktion als (etwas) überfordert mit der Coronakrise outet. Wie sollte es ihnen auch anders gehen als unsereinem! Und auch sehr schön, wenn sich Bettina Dyttrich, vorsichtig zwar, aber immerhin, auch alternativen Sichtweisen der Krise zuwendet. Aber genügt das auch? Wäre es nicht gerade die Aufgabe der WOZ, die erwähnte (vermisste?) Debatte nicht nur einzufordern, sondern auch aktiv zu gestalten? Warum habe ich seit längerem das Gefühl, dass einzig die liberale Presse (NZZ) willens und fähig ist, das Thema kontrovers zu diskutieren? Gibt es in den linken Medien womöglich gar eine unausgesprochene Übereinkunft (Achtung: Verschwörungstheorie!), dass in dieser «besonderen Lage» Kritik an der Staatsräson unangebracht ist? Bloss jetzt nicht die unermüdlich eingeforderte Solidarität gefährden!

Dabei gäbe es genug Themen, die auch uns Linke interessieren. Oder wie geht das zum Beispiel schon wieder mit dieser vertrackten Gouvernementalität? Was will diese jetzt schon wieder? Uns zu unserem Glück verhelfen? Uns «emanzipieren», damit wir uns selbst disziplinieren? Steht denn nicht das Corona-Narrativ beispielhaft für eine Entwicklung, die uns in letzter Konsequenz selbstentmündigt? Und sind wir Linke hier die Getriebenen oder die Treibenden? Und wenn Letzteres, warum? Schenkt uns womöglich das Virus eine gerechtere, solidarischere (sic!) Welt?

Deshalb: Ich wünsche mir von meiner WOZ, dass sie diese Debatte mit Nachdruck und Ausdauer bearbeitet. Abwarten, bis der «Sturm» vorbei ist, gilt in diesem Fall nicht. Startet eine Serie und kennzeichnet diese deutlich. Lasst dabei auch Leute zu Wort kommen, die nicht zu unserer Community gehören und trotzdem gescheit sind, kommentiert die Beiträge der anderen und geht raus und fragt die Leute, wie es ihnen geht.

Marc Meyer, Zürich