«Basel nazifrei»-Prozess: Mitten ins Auge und alles voller Blut

Nr. 48 –

An einer Demo in Basel schiesst die Polizei mit Gummischrot auf TeilnehmerInnen, ein junger Mann trägt bleibende Augenschäden davon. Er stand diese Woche wegen Landfriedensbruch vor Gericht.

Mit Gummigeschossen den Rechtsextremen den Weg freigeballert: Polizeieinsatz vom November 2018. Foto: Georgios Kefalas, Keystone

Er habe «ein Zeichen setzen» wollen, sagt der Angeklagte am Montag vor Gericht. Gegen die rechtsextreme Partei Pnos, die am 24. November 2018 auf dem Basler Messeplatz aufmarschierte. Eine Fahne hatte er damals mitgebracht, «Antifascista» stand darauf – rund 2000 Menschen hatten sich unter dem Slogan «Basel nazifrei» versammelt. Plötzlich hört er den Knall von Gummigeschossen, sagt der heute 36-Jährige. Blut läuft ihm übers Gesicht, er hält seine Hand vors rechte Auge – und verliert das Bewusstsein.

Die Polizei hatte 2018 nahezu flächendeckend den antifaschistischen Protest gefilmt. Nun sind kurz vor der Gerichtsverhandlung vom Montag in den sozialen Medien neue Aufnahmen der Polizei aufgetaucht. Das geleakte Videomaterial, das unter anderem ein Gespräch zwischen zwei Polizisten dokumentiert, legt nahe, dass die Polizei zuerst schoss und das Gummigeschoss womöglich gezielt als «Ablenkungsmanöver» einsetzte, damit die Pnos-AnhängerInnen unbehelligt zum Bahnhof ziehen konnten.

Auch die WOZ war damals vor Ort und schrieb von einem «fragwürdigen» Vorgehen der Polizei, «die auch aus kürzester Distanz, ohne deutliche Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund Gummischrot in die Menge feuerte. Teils auf Kopfhöhe, davon zeugen mehrere Gesichtsverletzungen. Schon jetzt ist klar, dass dieser Einsatz ein politisches und juristisches Nachspiel haben dürfte.»

Die Hardliner der Staatsanwaltschaft

Bislang trifft das Nachspiel allerdings nicht die Basler Polizei, sondern TeilnehmerInnen des Anti-Pnos-Protests, gegen die rund sechzig Verfahren eröffnet wurden. Seit Juli finden nahezu wöchentlich «Basel nazifrei»-Prozesse statt. Und nun, fast auf den Tag zwei Jahre nach der Demonstration, ist auch der 36-Jährige mit der Augenverletzung angeklagt.

Wegen Landfriedensbruch, der «passiven Teilnahme» an Gewalt und Drohung gegen Beamte und Nötigung, weil der Angeklagte kurz einer Gruppe Neonazis hinterhergerannt sein soll, um diese vom Platz zu vertreiben. Vierzehn Monate Gefängnis auf Bewährung fordert Staatsanwalt Camilo Cabrera.

Die Verfahren werden stets von denselben Staatsanwälten geführt: Flavio Noto und Cabrera, zwei Hardliner, die drastische Strafen fordern – denen das Gericht bisher zu weiten Teilen gefolgt ist. So wurde etwa ein 25-Jähriger zu sieben Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil er ein Transparent gehalten haben soll. Eine 28-Jährige verurteilte das Gericht wegen blosser Anwesenheit an der Kundgebung zu acht Monaten Gefängnis ohne Bewährung.

Aber nicht nur das juristische Nachspiel, sondern auch der Polizeieinsatz am Tag selbst wirft bis heute Fragen auf: «Plötzlich hat es geknallt», beschreibt die als Zeugin vorgeladene SP-Grossrätin Toya Krummenacher den Gummischroteinsatz. Auch sie hat damals mitdemonstriert und sich um den nun angeklagten Verletzten gekümmert – eine «traumatische Erinnerung». Der Einsatzleiter der Polizei habe sich zunächst geweigert, den Rettungswagen durchzulassen. «Es war ein Chaos. Alles war voller Blut.»

Er habe seither Mühe, etwas auf dem Handy zu lesen, sagt der Angeklagte. «Da schliesse ich automatisch das rechte Auge.» Auch die Ziffern 0, 8, 3 und 9 könne er nicht mehr gut unterscheiden.

Potenziell tödlich

Wie gefährlich Gummigeschosse als Polizeiwaffe sind, zeigte sich mehrfach in den letzten Jahren. Etwa in Winterthur, 2013: Eine junge Frau wird an der Tanzdemo «Standortfucktor» durch ein Gummigeschoss am Auge verletzt und verliert fast völlig ihre Sehkraft. Oder in Basel, 2016: Ein FCB-Fan ist nach einem Polizeieinsatz mit Gummischrot auf dem rechten Auge blind. In beiden Fällen werden die beschuldigten Polizisten später freigesprochen.

Die Vereinigung unabhängiger ÄrztInnen fordert schon lange, Gummigeschosse in der Schweiz zu verbieten. «Keine Sachbeschädigung, möge sie noch so gross sein, rechtfertigt das Ausschiessen von Augen oder andere Verletzungen oder sogar Todesfälle», so der Verein. «Materielle Schäden können behoben werden, der Verlust des Augenlichtes ist irreversibel.» Auch eine medizinische Studie von 2017, an der mehrere US-Universitäten beteiligt waren, kommt zum Ergebnis, dass Gummigeschosse zur Kontrolle von Massenaufläufen ungeeignet sind und in seltenen Fällen gar tödlich sein können. Sie hat dafür 26 Berichte aus sieben Ländern – darunter auch aus der Schweiz – ausgewertet.

Die Strafanzeige des 36-jährigen Demonstranten gegen die Basler Polizei ist zurzeit noch hängig. Staatsanwalt Cabrera zweifelt derweil schon mal an, ob die Augenverletzung überhaupt von einem Gummigeschoss stamme, da diese «in der Regel auch nicht mehr als blaue Flecken» hinterliessen. Der Angeklagte habe sich womöglich selbst mit der «Antifa-Fahne» am Auge verletzt.

Die Polizeivideos in den Akten zeigen nur wenige Minuten vor und nach dem Vorfall – die entscheidenden Aufnahmen fehlen. Dies hinterliess beim Gerichtspräsidenten Roland Strauss ein «ungutes Gefühl». Die These der Staatsanwaltschaft sei zudem «reichlich abwegig». Deswegen reduzierte er die von ihm erst vorgesehene bedingte siebenmonatige Gefängnisstrafe auf eine Geldstrafe von 150 Tagessätzen.

Eine Rechnung, die nicht zuletzt die makabre Frage aufwirft: Wie viel ist das Augenlicht von DemonstrantInnen wert?