Im Affekt: Stricken ennet der Trendwirtschaft

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Sie stricken noch nicht? Wie unklug von Ihnen. Die Gründe, warum es Ihnen guttun würde, sind geradezu schlagend, wie eine mit Verweisen auf Studien garnierte Auflistung auf dem Lifestyle-Portal «NZZ Bellevue» beweist: Stricken senkt Herzschlag und Bluthochdruck und ist darum so beruhigend und gesund wie kaum ein anderes Hobby. Stricken befriedigt das wachsende Bedürfnis nach hochwertigen Materialien und echtem Handwerk. Auf dem Portal ravelry.com finden Sie Anschluss an eine Community, wenn Sie sich mal einsam fühlen im Homeoffice. Und vor allem: Stricken dürfen jetzt sogar Männer, wie das bei Suhrkamp erschienene Buch «The Manly Art of Knitting. Stricken für Männer» bezeugt.

Ja, der Trend Stricken treibt gerade nervige Blüten. Aber «Don’t believe the hype» kann eben auch heissen: Lassen Sie sich von der marktgesteuerten Trendgeilheit nicht den Spass an geliebten Tätigkeiten verderben. Stricken ist so unscheinbar wie faszinierend – weil aus zwei technischen Grundelementen (rechte und linke Maschen) die unterschiedlichsten Gewebe entstehen und weil das Stricken, wie auch andere Handwerkstechniken, eine ständige Balance zwischen Planung und Rhythmus, Konzentration und Versenkung erfordert. Es wird Ihnen kaum helfen, wenn Sie sich dabei besonders gesund, nachhaltig, verbunden oder fortschrittlich vorkommen.

Wenn man dem Stricken im Handarbeitsunterricht begegnet oder als einziger Mann in der Schlange vor dem Wollladen ansteht und sich dann von der hilfsbereiten Dame zwischen Gestellen voller Knäuel in biederen Herbstfarben die Strickmuster und Eigenschaften der Wolle erklären lässt, ist vom heraufbeschworenen Trend sowieso wenig zu spüren. Stricken war schon toll, lange bevor es die kommunikativen Möglichkeiten und die kommerziellen Interessen hinter der Bewirtschaftung von Trends überhaupt gab. Das neue Biedermeier lebt nicht im Stricken, sondern in der Hoffnung auf innere Glückseligkeit, die die Trendwirtschaft damit verkaufen will.

Dieser Text kommt bewusst ohne Verweis auf das Grosi und seine Geschenke aus, denn genauso nervig wie die Vertrendung des Strickens ist dessen Missbrauch für Ageism.