Corona Call (5): Dong Haokun: «Theoretisch durften wir raus»

Nr. 5 –

«Ich habe letztes Jahr bereits Anfang Januar vom Virus gehört, denn ich habe eine jüngere Schwester, die in einem Krankenhaus arbeitet. Sie hat mich gewarnt und gesagt, ich müsse vorsichtig sein. Da wusste ich, dass es etwas Ernstes ist. Die Regierung hat sich erst später geäussert. Ich glaube, dass es wichtig war, behutsam mit den Informationen umzugehen und den Leuten keine Angst einzujagen.

Ich bin in Wuhan geboren und aufgewachsen und habe auch hier studiert. An der Universität lernte ich klassischen Tanz. Manche Leute werden einfach mit ihrer Leidenschaft geboren – ich konnte bereits im Alter von zwei oder drei Jahren tanzen. 2008 habe ich schliesslich mein Tanzstudio eröffnet, im 28. Stock, mit Blick über Wuhan.

Als die Stadt am 23. Januar 2020 vollständig abgesperrt wurde, konnte ich mein Geschäft natürlich nicht weiterführen. Wie praktisch alle Bewohner durften wir unsere Wohnung nicht verlassen, die Haustür war die Grenze meiner Bewegungsfreiheit. Draussen auf den Strassen fuhren praktisch keine Autos mehr, es waren auch keine Menschen zu sehen. Unser Nachbarschaftskomitee hat das Wichtigste zum Überleben organisiert. Wir konnten Lebensmittel bestellen, die uns dann vor die Tür geliefert wurden.

Jeden Morgen haben wir zuerst die neuen Infektions- und Todeszahlen nachgeschaut, das war ziemlich deprimierend. Aber man muss irgendwie weitermachen. Ich habe versucht, aktiv zu bleiben, etwa mit Yogaübungen – manchmal gemeinsam mit meinen Eltern, wir wohnen schliesslich zusammen unter einem Dach.

Das grösste Problem während des Lockdowns war für viele Familien in Wuhan das fehlende Geld. Über Monate hatten sie kein Einkommen und mussten hohe Schulden bei der Bank aufnehmen. Ich war glücklicherweise in einer privilegierten Situation und konnte weiterhin etwas verdienen, da ich mir vor Jahren bereits im Onlinedevisenhandel ein zweites Standbein aufgebaut hatte. Da konnte ich die Zeit sogar zum Selbststudium nutzen.

Am meisten habe ich während des Lockdowns meine neunzigjährige Grossmutter vermisst. Sie hatte im März einen Herzinfarkt. Nur meine Mutter durfte sich um sie kümmern: Sie hatte bei der Regierung eine Notfallgenehmigung beantragt, um das Haus verlassen zu dürfen. Weder ich noch mein Vater durften sie aber besuchen. Seit dem Herzinfarkt vegetiert meine Grossmutter nur noch vor sich hin, fast wie eine Pflanze. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie mich noch erkennt.

Am 8. Mai wurde die Stadt wieder geöffnet. Das bedeutete aber nicht auf einen Schlag Freiheit für alle. Theoretisch durften wir raus, doch wurden wir weiter dazu angehalten, nur auf die Strasse zu gehen, wenn es absolut notwendig war. Als Allererstes ging ich im Supermarkt einkaufen.

Seither hat sich das Leben wieder normalisiert, während Monaten gab es in Wuhan keine einzige Infektion mehr. Im Juni konnte ich das Tanzstudio wieder öffnen. Die meisten Kunden kommen schon seit Jahren zu mir, viele von ihnen haben nach ihrer Pension mit Tanzkursen angefangen. Ich arbeite auch mit Fitnessstudios zusammen. Bis vor der Pandemie hatte ich zudem ein Tanzangebot für Kinder, das habe ich bislang aber noch nicht wieder aufgenommen.

Ich finde, dass die Menschen nach der Pandemie untereinander solidarischer geworden sind. Wir hatten viel Zeit zum Nachdenken. Persönlich habe ich zu verstehen gelernt, was Freiheit wirklich bedeutet: Es geht nicht darum, nur das zu machen, was man selber will. Man muss auch immer an die Allgemeinheit denken.»

Dong Haokun (37) ist Tanzlehrer in der chinesischen Stadt Wuhan. In seinem Studio bietet er Kurse in traditionellem chinesischem und in orientalischem Tanz sowie in Ballett an.