Corona in China: Geplatzte Träume und gefrorene Herzen

Nr. 44 –

Die Pandemie hat die wirtschaftliche Situation vieler Chines:innen ­ nachhaltig verschlechtert. Die Kaufkraft schwindet, viele Betriebe kämpfen ums Überleben. Zu Besuch in einem Restaurant und einer Bar.

Es ist Spätsommer, und im Stadtpark von Fuyang reihen sich einfache Klappbetten aneinander, so weit das Auge sehen kann. Die Parkbesucher:innen in der zentralchinesischen Acht-Millionen-Stadt kommen besonders während der Abendstunden nicht mehr nur zum Schlendern in den Park, sondern um sich im Freien massieren zu lassen.

Vor den Klappbetten wischen Massagetherapeut:innen durch Videos auf Douyin, der chinesischen Version von Tiktok, während sie auf Kund:innen warten. Eine handgeschriebene Preisliste liegt auf dem Boden. Im Angebot stehen medizinische Massagen, bei denen keine ätherischen Öle verwendet werden und für die man sich auch nicht ausziehen muss. Sie verschaffen Büroangestellten, die keine Zeit haben, sich zu bewegen, oder älteren Menschen, die dazu nicht mehr in der Lage sind, Abhilfe bei Muskelverhärtungen.

Endlich konnte Herr Cai die Bar wieder öffnen – für genau 35 Minuten.

Üblicherweise werden solche Massagen in entsprechenden Praxen angeboten. Doch drei Jahre nach dem Ausbruch der Coronapandemie, die ihren Ursprung im rund 400 Kilometer weiter südlich gelegenen Wuhan hat, und einer seither staatlich rigoros durchgesetzten Null-Covid-Politik ist die wirtschaftliche Lage der sogenannten Normalbürger:innen angespannt: Im ersten Halbjahr sind die Ausgaben der privaten Haushalte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 2,4 Prozent zurückgegangen. Wenn man nur die nicht lebensnotwendigen Ausgaben, etwa eine der erwähnten Massagen, berücksichtigt, beträgt der Rückgang sogar 9,3 Prozent. Das von der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt ausgerufene Wirtschaftswachstumsziel von 5,5 Prozent fürs laufende Jahr wird krachend verfehlt werden, die Weltbank rechnet mit gerade einmal 2,8 Prozent.

Die üblichen medizinischen Massagen wurden mit der angespannten Wirtschaftslage für die vielen Haushalte unerschwinglich. Was die lokalen Therapeut:innen dazu veranlasst hat, über Alternativen nachzudenken. Fündig wurden sie buchstäblich auf der Strasse oder eben im Stadtpark. Unter freiem Himmel kostet eine dreissigminütige Massage nur 20 Yuan (2.75 Franken) – rund ein Drittel weniger als früher in den Salons, weil die Mietkosten für die Räumlichkeiten entfallen. In Fuyang haben die Therapeut:innen so wieder mehr Kundschaft, und die Einheimischen müssen trotz kleinerem Budget nicht auf ihre Massage verzichten.

Vom Boom- zum Ruhetag

Etwa 600 Kilometer östlich, im Zentrum der Wirtschaftsmetropole Schanghai, hat sich der Alltag langsam wieder normalisiert. Aber die zweimonatige Abriegelung der Stadt Anfang Jahr hat Spuren hinterlassen. Die Sorge vor neuen Lockdowns liegt weiter in der Luft. Auch deshalb gehen die Einwohner:innen Schanghais behutsamer mit ihrem Budget um: «Sie legen mehr Geld für den Notfall auf die Seite», sagt Roberto Bernasconi, Chefkoch und Manager des «Porto Matto», eines eher gehobenen italienischen Restaurants. Es seien deutlich weniger Ausländer:innen in der Stadt. Dafür werde das «Porto Matto» jetzt zwischen 17 und 20 Uhr, der Zeit, in der Chines:innen gerne essen, stärker frequentiert. Es gebe insgesamt mehr Kund:innen, sagt er, aber sie gäben weniger aus. Ein Samstagabend bringt jetzt etwa 30 000 Yuan (4110 Franken) ein. In der Zeit vor der Schliessung waren es noch 40 000 Yuan (5585 Franken).

Bernasconi erinnert sich an Montagabende, an denen Geschäftsleute von Peking aus in den Süden und von Hongkong aus in den Norden reisten, um sich dann in seinem Schanghaier Restaurant zu treffen. Solche Reisen gibt es heute praktisch nicht mehr. Der Zugang zu Städten ist beschränkt. Und immer droht die Gefahr, während einer Geschäftsreise wegen eines neuerlichen Lockdowns Schanghai nicht mehr verlassen zu dürfen. Der Montag, einst der wichtigste Tag für Geschäftsessen, ist nun ein Ruhetag im «Porto Matto».

Nur zehn Gehminuten vom italienischen Restaurant entfernt liegt die Bar 28cocktail. Sie wurde im Sommer 2021 von Herrn Cai, einem jungen Schanghaier, der seinen Vornamen nicht nennen will, eröffnet. Der erste Sommer war dank des guten Wetters und der prominenten Lage wirtschaftlich erfolgreich. Klar, der folgende kalte Winter bremste das Geschäft aus. Das Kerngeschäft der Bar sind erschwingliche Cocktails zum Mitnehmen, die dann auf der Strasse getrunken werden können. Aber Herr Cai war zuversichtlich, dass mit dem Frühling und den wärmeren Temperaturen auch das Geschäft wieder besser laufen würde. Er konnte ja nicht wissen, dass der ganzen Stadt ein Albtraum bevorstand.

Während der zweimonatigen Abriegelung Schanghais im April und Mai war Herr Cai zu Hause eingesperrt, zahlte aber weiterhin die volle Miete für seine geschlossene Bar sowie das Gehalt für seine drei Angestellten. Einen Grossteil der verderblichen Zutaten, die er gelagert hatte, musste er wegwerfen.

 

 

Nach zwei langen und beschwerlichen Monaten wurde das «28cocktail» am 1. Juni wieder geöffnet – für genau 35 Minuten. Bis um 18.35 Uhr die Polizei alle Barbesitzer:innen in der Nachbarschaft dazu aufforderte, die Türen wieder zu schliessen, weil die Strasse zu voll geworden war (eine Bar nebenan schenkte kostenlosen Alkohol aus). Am nächsten Tag war das «28cocktail» noch einmal geöffnet, dieses Mal bis 21 Uhr – bis eine Einheit mit Schutzanzügen die Strasse zur «Desinfektion» räumte. Eine Woche später schliesslich, am 8. Juni, wurde in der Nachbarschaft der Bar eine Person identifiziert, die engen Kontakt mit einer positiv getesteten Person gehabt hatte. Das «28cocktail» musste erneut eine ganze Woche lang geschlossen bleiben.

Der Juli lief kaum besser. Im Aussenbereich, wo Cai früher Stühle für die Kund:innen aufgestellt hatte, damit diese ihre Drinks vor der Tür trinken können, errichtete die Polizei einen Eisenzaun, um öffentliche Versammlungen zu unterbinden. Ein weiterer harter Schlag für die Bar. Und weil sich die Kund:innen fortan nicht mehr im Freien aufhalten konnten, mussten sie ihre Drinks im Innern des «28cocktail» trinken. Der Raum war damit aus Sicht der Behörden aber überfüllt, das Risiko für Ansteckungen zu gross. Die Polizei intervenierte und verordnete eine Halbierung der zugelassenen Besucher:innenzahl.

Höhere Kosten für Getränke (Craftbier ist bis zu vierzig Prozent teurer als vor der Pandemie) und Energie (beeinflusst durch Ölpreiserhöhungen im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine) setzten den jungen Unternehmer zusätzlich unter Druck. Das endgültige Aus folgte auf eine anonyme Anzeige bei den Behörden, weil er im Innern der Bar Shishapfeifen angeboten hatte. Am 5. August schloss Herr Cai seine Bar schliesslich für immer.

Fehlende Solidarität

Dass das «Porto Matto» im Gegensatz zum «28cocktail» seinen Betrieb noch nicht einstellen musste, hat auch mit unterschiedlichen Vermieter:innen zu tun. Das «Porto Matto» ist in einem Gebäude der Regierung untergebracht. Diese erliess die Miete dieses Jahr sechs Monate lang. Der private Vermieter von Herrn Cai hingegen war nicht bereit, über einen Preisnachlass auch nur zu sprechen. Der Mangel an Solidarität unter den Schanghaier Mitbürger:innen in einer für die Stadt so schwierigen Zeit, sagt Herr Cai, habe ihm «das Herz gefrieren lassen».

Er, der selbst kein grosser Trinker sei, habe sich so gefreut, eine eigene Bar zu eröffnen. Aber der Druck sei schlicht zu gross geworden. Herr Cai verlor Appetit, Gewicht und Haare, schlief zunehmend schlecht – und begann zu rauchen. «Den finanziellen Verlust könnte man ja vielleicht irgendwann wieder gutmachen», sagt Cai. «Aber solche psychischen Schmerzen will ich nie wieder durchmachen müssen.»