Im Affekt: Selbstgerecht in vollen Zügen

Nr. 7 –

Gut, wir können uns schon über jeden weiteren «Impfdrängler» (prominente weibliche Exemplare sind bis jetzt kaum in Erscheinung getreten) aufregen, bis uns der Schaum vor dem Mund steht. Die Aufregung ist einfach ein bisschen lächerlich. Stutzig machen könnte schon die Tatsache, dass sich auf den «Impfdrängler» als Feindbild offenbar alle einigen können – ein rarer Moment der Übereinstimmung in dieser ansonsten sehr unsolidarischen zweiten Welle. Vermutlich ist es auch das erste Mal, dass ein vom «Blick» lanciertes Wort ein paar Tage später ohne Umschweife in der NZZ verwendet wurde.

Doch je lauter das Gezeter, desto weniger kann man sich des Verdachts erwehren, dass hier gerade eine hoch emotionale Stellvertreteraufregung am Überkochen ist. Denn: Worüber ärgern wir uns? Über den Kapitalismus etwa, dessen Abkömmling so ein «Impfdrängler» offensichtlich ist? Klar ist er unsolidarisch, selbstsüchtig und gierig – aber in diesem Sinn auch schlicht systemimmanent. Und global gesehen sind eh alle reichen Industrienationen «Impfdrängler». Dazu kommt: Der «Impfdrängler» zelebriert bloss in vollen Zügen die zur Staatsräson erhobene Eigenverantwortung.

Apropos volle Züge: Wer sass denn letzten Sommer bis fünf vor Maskenpflicht unsolidarisch, selbstsüchtig und ungeschützt im überfüllten Dosto Chur–Zürich? Irgendwie wir alle. Und wer hat sich darüber aufgeregt? Kaum jemand. Das war der Direktzug in die zweite Welle. Klar: Es ist einfacher, den «Impfdrängler und Südafrika-Milliardär» Johann Rupert – oder den Fasnächtler Alois Gmür – anzuprangern, als sich selbst ins Gebet zu nehmen. Die prominenten Mängelexemplare lenken effizient von uns ebenfalls mangelhaften Vielen ab. Aber in einer Pandemie sind am Ende die Vielen das grössere Problem als die Einzelnen.

«Je suis Johann Rupert» – der Slogan für eine endlich ehrliche Solidaritätswelle.