RebellInnenrätsel: Die vergessene Pazifistin
Als «Unkraut» beschreibt sie sich selber während ihrer Zeit in dieser «Institution, die man Schule nennt». Sie wollte sich keiner «Dressur» unterwerfen und verstand auch nicht, weshalb man still sitzen musste. «Ich habe die Hauptsache vergessen», lautete ein Satz, den sie zur Strafe viele Male an die Tafel schreiben musste.
Doch das Gegenteil war der Fall. Jung beschloss die hochbegabte Schülerin, nie zu heiraten. Ab der Jahrhundertwende studierte sie organische Chemie in Bern und promovierte bereits nach nur drei Jahren. 1907 wurde sie eine der ersten Dozentinnen an einer Schweizer Universität. Ein Platz in den Geschichtsbüchern hätte ihr da bereits sicher sein sollen.
Der Fortschritt sollte vorerst eine Illusion bleiben. In ein winziges Labor mit minimaler Ausrüstung versetzt, wurden alle ihre Anfragen nach besserer Finanzierung oder Beförderung von der Universität abgelehnt. Der inoffizielle Grund, laut einer ehemaligen Laborassistentin: «die Jalousie» der männlichen Kollegen.
Die Hauptsache nicht vergessen! Sie wehrt sich gegen die patriarchalen Strukturen, verlangt vor hundert Jahren schon gleichen Lohn für gleiche Arbeit und kämpft für das Frauenstimmrecht. Als Biochemikerin über die Forschung an chemischen Waffen im Bilde, verfasst sie Flugblätter, schreibt Bücher, die später von den Nazis verbrannt werden, reist in die USA, um auf die menschlichkeitsverheerende Wirkung chemischer Waffen aufmerksam zu machen, wird zur Mitbegründerin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit.
Die Universität Bern, die gerade einen an der Entwicklung des Senfgases beteiligten Professor einstimmig zum Ordinarius des Fachbereichs für organische Chemie gewählt hat, schlägt mit ihren Waffen zurück. Die Professur erlangt sie erst mit 55 Jahren. Später wird es heissen, sie habe «die Karriere dem Kampf für Frieden geopfert».
Der Rest ist tragisch. Von der Universität als unzurechnungsfähig verleumdet, beginnt sie unter Verfolgungswahn zu leiden und zieht sich in ein Chalet oberhalb des Thunersees zurück, von wo aus sie sich bis zu ihrem Tod weiter engagiert. Wer ist die beeindruckende Frau, die 1968 einsam in einer Nervenheilanstalt stirbt, deren Asche von den Angehörigen, die sie bloss als die verschrobene «Tante Trudi» kannten, erst Jahre später abgeholt wird?
Wir fragten nach der frühen Professorin, Feministin und Friedensaktivistin Gertrud Woker (1878–1968). Die Tochter eines Theologie- und Geschichtsprofessors war die erste Privatdozentin für Chemie an einer Schweizer Hochschule. Trotz ihrer bahnbrechenden Arbeit im Bereich der Biochemie, zu deren Wegbereiterinnen sie gehört, blieb ihr der Aufstieg in die hohen wissenschaftlichen Sphären lange verwehrt. Insbesondere ihr Engagement gegen biologische und chemische Waffen sowie ihr Einsatz für feministische Anliegen stiess in der Zeit der zwei Weltkriege dem patriarchalen Establishment sauer auf. Selbst von ihren Angehörigen, mit denen sie kaum in Kontakt stand, wurde ihr unnachgiebiges Engagement als realitätsfremd belächelt – etwa als sie den US-Präsidenten Kennedy in einem Brief dazu aufforderte, sofort mit den Atomwaffentests aufzuhören. Ab 9. September läuft im Kino der Dokumentarfilm «Die Pazifistin» an, der Gertrud Wokers inspirierendem und tragischem Leben mit zahlreichen Stimmen und originellen animierten Collagen eine überzeugende, wenn auch späte Würdigung erweist.