Geopolitik: Invasionsrhetorik trotz Abhängigkeit
Die Spannungen zwischen China und Taiwan haben zuletzt wieder zugenommen. Militärisch sind die Kräfteverhältnisse eindeutig, aber die ökonomischen Folgen lassen sich schwer abschätzen. Auch die USA halten sich strategisch bedeckt.
In einer Rede in Peking sprach Chinas Präsident Xi Jinping am 9. Oktober von der «friedlichen Wiedervereinigung» mit Taiwan, und zwar unter dem bekannten Grundsatz «ein Land, zwei Systeme». Es ist Routine, dass Chinas Regierung zu dieser Jahreszeit ihren Anspruch auf Taiwan unterstreicht. Am Nationalfeiertag zur Staatsgründung 1949 oder, wie diesmal, zum auch in Taiwan begangenen Jahrestag der Xinhai-Revolution von 1911. Wie oft zu solchen Anlässen folgte auch in diesem Jahr eine Machtdemonstration: Dutzende chinesische Militärflugzeuge durchflogen die taiwanesische Luftüberwachungszone, mehr als je zuvor.
Die Regierung unter Xi Jinping scheint seit langem entschlossen, die «Wiedervereinigung» mit Taiwan bis zur geplanten Vollendung der «grossen Erneuerung der chinesischen Nation» im Jahr 2049 durchzusetzen, falls nötig mit kriegerischen Mitteln. Der Anspruch auf die Insel hat grosse symbolische Bedeutung für Legitimität und Herrschaft der Kommunistischen Partei. In Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Probleme dient er zudem der nationalistischen Mobilisierung.
«Tragbare» Verluste?
Auf der anderen Seite der 180 Kilometer breiten Meeresstrasse will aber eine wachsende Mehrheit der taiwanesischen Bevölkerung keine Annäherung an die Volksrepublik, nicht zuletzt weil sich in Hongkong das Prinzip «ein Land, zwei Systeme» durch die Interventionen aus Peking und die Unterdrückung der Opposition als Illusion erwies. Auch deshalb wurde Präsidentin Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei 2020 wiedergewählt. Auf Xis Rede reagierte sie mit dem kategorischen Ausschluss einer «Wiedervereinigung».
Anders als früher drängt Tsai aber nicht mehr auf eine formale Unabhängigkeitserklärung Taiwans, weil dies zu einer Eskalation führen könnte. Aussenpolitisch ist Taiwan, nicht zuletzt auf Bestreben der Regierung in Peking, weitgehend isoliert. Das taiwanesische Militär ist den Streitkräften der Volksrepublik weit unterlegen. Verteidigungsminister Chiu Kuo-cheng geht davon aus, dass chinesische Truppen bis 2025 in der Lage sein werden, eine Invasion Taiwans mit für sie «tragbaren» Verlusten durchzuführen.
Gegen eine baldige Übernahme der Insel durch die Volksrepublik spricht bisher jedoch die geopolitische Bedeutung Taiwans insbesondere für die US-Regierung und ihre Verbündeten in der Region. Hier lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Nach der Niederlage der nationalistischen Truppen 1949 im Bürgerkrieg gegen die Einheiten der Kommunistischen Partei, ihrem Rückzug auf die Insel Taiwan und dem Ausbruch des Koreakriegs 1950 stellte die US-Regierung unter Harry S. Truman Taiwan unter Militärschutz. Dies war Teil der Eindämmungsstrategie gegen die «kommunistische Bedrohung» durch China und die Sowjetunion. 1954 schlossen die USA und Taiwan gar einen Verteidigungspakt; US-Truppen wurden auf der Insel stationiert. Artilleriegefechte zwischen chinesischen und taiwanesischen Streitkräften auf von Taiwan kontrollierten Inseln nahe dem chinesischen Festland drohten mehrfach weiter zu eskalieren.
Nur «ein China»
Die Lage entspannte sich erst, als die US-Regierung unter Richard Nixon 1972 anerkannte, dass es für die Regierungen der Volksrepublik und Taiwans jeweils nur «ein China» gebe, und die USA 1979 diplomatische Beziehungen zur chinesischen Volksrepublik aufnahmen. Im selben Jahr wurde in den USA der Taiwan Relations Act beschlossen, der Taiwan militärische Unterstützung zusicherte – allerdings ohne die Zusage militärischer Verteidigung. Seitdem erhalten die taiwanesischen Streitkräfte regelmässig Waffenlieferungen aus den USA, und die US-Marine und Verbündete befahren immer wieder die Seegebiete um Taiwan oder halten dort Manöver ab, so auch Anfang dieses Oktobers.
Die heutige US-Regierung will Chinas Einfluss in der Region und darüber hinaus erneut eindämmen. Sie hält im Konflikt um Taiwan an einer Politik der «strategischen Ambiguität» fest und lässt offen, ob sie Taiwan im Angriffsfall militärisch beistehen würde. Die Uneindeutigkeit soll sowohl einen Militärschlag der Volksrepublik als auch eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans verhindern und zudem die wirtschaftlichen Beziehungen zu beiden Seiten aufrechterhalten.
Insbesondere für die Zulieferketten in der Elektronikindustrie ist die taiwanesische Wirtschaft wichtig: Taiwan ist weltgrösster Hersteller von Halbleitern, und die Abhängigkeit auch der USA und Chinas zeigt sich derzeit in Produktionsausfällen etwa in der Automobil- und Computerindustrie. Diese gehen teils auf Lieferengpässe bei Computerchips aus Taiwan zurück.
Angesichts ihrer jüngsten Rhetorik zur möglicherweise militärisch durchgesetzten «Wiedervereinigung» mit Taiwan wird sich zeigen, welchen innen- und aussenpolitischen Spielraum für eine friedliche Lösung die chinesische Regierung noch findet. Sie mag die militärischen Kosten eines Kriegseinsatzes gegen Taiwan in ein paar Jahren für tragbar halten, die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen kann sie hingegen kaum absehen.