Taiwan: Die USA und das doppelte China
Taiwan spielt für die USA eine zentrale Rolle in ihrer Eindämmungspolitik gegenüber der Volksrepublik China – wie schon einmal vor mehr als sechzig Jahren. Allerdings unter veränderten Vorzeichen.
Der Konflikt zwischen den Weltmächten drohte sich nach den Präsidentschaftswahlen in Taiwan zu verschärfen. Am 13. Januar wurde Lai Ching-te von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) zum Präsidenten gewählt. Lai und die DPP stehen für die nationale Eigenständigkeit Taiwans, das nur mit wenigen Ländern diplomatische Beziehungen unterhält und auch aus den meisten internationalen Organisationen ausgeschlossen bleibt.
Die chinesische Regierung reagierte überraschend zurückhaltend auf die Wahl Lais. Chinesische Botschaften rügten die Gratulationsbekundungen mehrerer Regierungen als «Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten». Militärflugzeuge und Kriegsschiffe der Volksrepublik drangen nach den Wahlen in Taiwans Luftraumüberwachungszone ein.
Das blieb weit hinter den wütenden Reaktionen zurück, mit denen die chinesische Regierung im August 2022 und April 2023 auf Treffen der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und ihres Nachfolgers Kevin McCarthy mit taiwanischen Regierungsmitgliedern geantwortet hatte. Chinesische Streitkräfte hielten damals ausgedehnte Militärmanöver ab und übten die Blockade Taiwans. Möglicherweise wartet die Regierung in Peking noch auf die Amtseinführung Lais am 20. Mai, bevor sie härter reagiert.
Wie lange währt das Tauwetter?
Die Zurückhaltung der chinesischen Regierung dürfte auch mit den wirtschaftlichen Problemen zusammenhängen, mit denen sie ringt. Neben der Krise im Immobiliensektor, der hohen kommunalen Verschuldung und der gestiegenen Jugendarbeitslosigkeit wirken sich hier auch die geopolitischen Spannungen zwischen der Volksrepublik und den USA aus. Sie haben zum Rückgang ausländischer Investitionen in China beigetragen. Aus Angst vor Störungen ihrer Lieferketten durch protektionistische US-Massnahmen verlegten Konzerne Fabriken aus China in andere Länder. Der Sinkflug der chinesischen Börsenkurse seit ihrem Hoch Anfang 2022 zeugt zudem vom schwindenden Vertrauen in- und ausländischer Anleger:innen in die chinesische Wirtschaftsentwicklung.
Auch um Vertrauen zurückzugewinnen, setzt die chinesische Regierung schon seit Monaten auf die Entspannung ihrer Beziehungen zur US-Regierung, sichtbar beim Treffen der Präsidenten Xi Jinping und Joe Biden am Rand des Apec-Gipfels bei San Francisco im November 2023. Das Tauwetter könnte jedoch von kurzer Dauer sein, weil der Konflikt um Taiwan wieder zu eskalieren droht.
Das liegt auch an der Haltung der US-Regierung. Für sie ist Taiwan ein wichtiger Faktor ihrer Eindämmungspolitik gegen die wirtschaftlich und politisch erstarkte Volksrepublik China, die seit Jahren die globale Hegemonialstellung der USA gefährdet. Taiwan hat heute eine ähnliche Bedeutung für die US-Politik in Ostasien wie bereits vor siebzig Jahren, als die USA zur Schutzmacht Taiwans wurden.
Eindämmung des Kommunismus
Nachdem die Nationale Volkspartei (KMT) unter Chiang Kai-shek 1949 den Bürgerkrieg gegen die Kommunistische Partei Chinas verloren hatte, floh sie mit ihren Truppen auf die Insel Taiwan. Sie beanspruchte jedoch weiter die Herrschaft über ganz China.
1954 schlossen KMT und US-Regierung einen Verteidigungspakt. Die USA unterstützten Taiwans Militär finanziell und verlegten ab 1955 im Rahmen ihres «US-Verteidigungskommandos Taiwan» Kriegsschiffe, Fluggeschwader, Raketen und Truppen auf die Insel. Ab 1960 stationierten sie dort sogar Atomwaffen. Als sich die Auseinandersetzungen zwischen Truppen der Volksrepublik und Taiwans während der Taiwanstrassenkrisen 1954 und 1958 zuspitzten, stärkten die USA so die taiwanische Seite, auch wenn sie nicht direkt eingriffen.
Taiwan war Teil der «ersten Inselkette» im Osten des Pazifiks, die sich vom Norden über Japan und die Philippinen Richtung Süden erstreckt und auf der etliche US-Militärbasen errichtet wurden. Diese dienten der Eindämmung des «Kommunismus» und waren gegen die Sowjetunion, China, Nordkorea und später Vietnam gerichtet. Die US-Regierung befürchtete damals, dass weitere Staaten «umkippen» – entsprechend ihrer «Dominotheorie», der zufolge weitere Absetzungen US-freundlicher Regierungen verhindert werden mussten.
Mit der Annäherungspolitik der US-Regierung an die Volksrepublik ab 1971 geriet Taiwan ins Hintertreffen. Die Regimes in der Sowjetunion und in der Volksrepublik China hatten sich bereits 1960 zerstritten, 1969 kam es kurzzeitig zum militärischen Konflikt. Die US-Regierung wollte die Beziehungen zur Volksrepublik verbessern, um die geopolitische Position der Sowjetunion im Kalten Krieg weiter zu schwächen.
1972 unterzeichneten US-Präsident Richard Nixon und der chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai ein Communiqué, in dem die USA anerkannten, dass es nur «ein China» gibt und Taiwan Teil davon ist. Dies markiert den Anfang der Ein-China-Politik der USA. Im selben Jahr zogen die US-Streitkräfte ihre Atomwaffen aus Taiwan ab und begannen, ihre dortige Truppenstärke zu reduzieren. 1979 nahmen die USA und die Volksrepublik China diplomatische Beziehungen auf, gleichzeitig wurden jene zwischen den USA und Taiwan beendet. Das «US-Verteidigungskommando Taiwan» wurde aufgelöst, die restlichen US-Truppen zogen ab.
Im selben Jahr beschloss der US-Kongress allerdings auch den Taiwan Relations Act, der die USA zur Lieferung von Waffen «defensiven Charakters» an Taiwan verpflichtet. Ihm zufolge müssen die USA auch in der Lage bleiben, Taiwan im Fall eines militärischen Angriffs zur Seite zu stehen. Nachdem 1982 die US-Regierung in einem weiteren Communiqué mit der chinesischen Regierung ihre Ein-China-Politik bestätigt hatte, rang ihr das KMT-Regime in Taiwan zudem die «sechs Zusicherungen» ab. Diesen zufolge erkennen die USA den Anspruch der Volksrepublik auf Taiwan nicht an.
Fabrik der Welt
Die US-Regierung verfolgt seitdem eine Politik der «strategischen Ambiguität», mit der sie letztlich den Status quo erhalten will. Sie folgt der Ein-China-Politik und unterhält diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik, droht dieser jedoch, im Fall eines militärischen Angriffs auf Taiwan zu intervenieren; und sie unterstützt Taiwan mit Waffenlieferungen, droht jedoch, ihre Unterstützung zu beenden, falls die dortige Regierung die Unabhängigkeit ausruft.
Ab den neunziger Jahren änderten sich die wirtschaftlichen Beziehungen der beteiligten Staaten. Die Volksrepublik China entwickelte sich zur «Fabrik der Welt», vorangetrieben auch durch ausländische Investitionen aus den USA – und in erheblichem Mass aus Taiwan. Die US-Regierung setzte auf eine weitere Öffnung der Volksrepublik durch wirtschaftliche Verflechtung und auf eine fortgesetzte politische Annäherung.
Taiwan war selbst mithilfe ausländischen Kapitals in den sechziger Jahren zur Weltmarktfabrik geworden, nun zogen taiwanische Unternehmen in die Volksrepublik, um dort «billige» Arbeitskräfte auszubeuten. Sie brachten unter anderem Managerinnen und Techniker mit. Heute leben über eine Million Taiwaner:innen in der Volksrepublik, das entspricht fünf Prozent der Bevölkerung Taiwans. Die Volksrepublik wurde auch zum wichtigsten Handelspartner Taiwans, vor den USA und Japan.
Streit um die globale Hegemonie
Die Volksrepublik China stieg bis 2010 zur weltweit zweitgrössten Ökonomie auf. Als globales Zentrum der industriellen Fertigung und wichtigster Handelspartner vieler Staaten beanspruchte das Regime in Peking auch eine grössere geopolitische Rolle. Das gefährdet seitdem die Interessen der USA und deren globale Hegemonie.
Die US-Regierung unter Präsident Barack Obama richtete ihren aussenpolitischen Fokus Anfang der zehner Jahre auf Asien und die Konfrontation mit der Volksrepublik. Unter Donald Trump belebten die Regierungen der USA, Indiens, Japans und Australiens den Quadrilateralen Sicherheitsdialog, kurz Quad, wieder: ein Militärbündnis gegen den wachsenden Einfluss der Volksrepublik im Indopazifik. 2018 verhängten die USA Strafzölle gegen chinesische Importe – der Beginn des Handelskriegs zwischen den beiden Ländern. Joe Biden setzt diese neue Eindämmungspolitik fort. Sie richtet sich nicht mehr gegen ein «kommunistisches» China, sondern gegen den kapitalistischen Konkurrenten China. 2021 gingen die Regierungen der USA, Grossbritanniens und Australiens ein weiteres Militärbündnis ein, das vor allem der Ausrüstung Australiens mit Atom-U-Booten dient. Dies ist gegen die maritime Aufrüstung der Volksrepublik in Ostasien gerichtet.
Taiwan geriet wieder ins Zentrum des neuen Blockkonflikts, nachdem 2016 Tsai Ing-wen von der DPP zur Präsidentin gewählt worden war. Sie stand für grössere Distanz und die mögliche Unabhängigkeit von der Volksrepublik China, anders als ihr Vorgänger Ma Ying-jeou von der KMT, der auf engere Zusammenarbeit gesetzt hatte. Das Regime in Peking verschärfte danach seine Rhetorik zur Übernahme Taiwans.
2020 wurde Tsai wiedergewählt, erneut zum Unmut des Regimes in Peking. Tsai profitierte von den Ereignissen in Hongkong. Dort war im selben Jahr die Bewegung gegen die politische Einflussnahme der Volksrepublik in der Stadt niedergeschlagen worden.
Ökonomische Interessen
Seit chinesische Streitkräfte auf die Kontakte von politischen Vertreter:innen der USA und Taiwans 2022 und 2023 mit Manövern reagiert hatten, erhöhte die US-Regierung ihre Militärpräsenz in der Region und stockte ihre Waffenlieferungen an Taiwan auf. Zuletzt wurden wieder US-Militärausbilder:innen auf die Insel geschickt. Die taiwanischen Streitkräfte sollen gestärkt werden, damit sie einem chinesischen Angriff länger standhalten können.
US-Präsident Biden sagte zuletzt wiederholt, dass die USA Taiwan bei einem Angriff militärisch zur Seite stünden. Zwar stellten Sprecher:innen des Weissen Hauses jeweils klar, dass die US-Regierung an der Ein-China-Politik und der «strategischen Ambiguität» festhalte. Bidens Äusserungen deuten jedoch darauf hin, dass die US-Regierung entschlossen ist, Taiwans faktische Autonomie auch militärisch zu verteidigen.
Die Regierungen der USA und verbündeter Staaten sprechen oft von der Verteidigung der Demokratie in Taiwan. Sie wollen jedoch vor allem ihre eigenen ökonomischen und geostrategischen Interessen wahren. Die Wirtschaft in den USA und in verbündeten Staaten ist abhängig von in Taiwan produzierten Halbleitern – wie auch die Wirtschaft der Volksrepublik. In Taiwan werden etwa sechzig Prozent aller Halbleiter produziert – und neunzig Prozent der modernsten, die für elektronische Massengüter wie auch für Waffensysteme gebraucht werden.
Die Anstrengungen, in den USA und Europa eine Halbleiterindustrie aufzubauen, die die Produktion in Taiwan ersetzen und damit die Folgen eines chinesischen Angriffs auf Taiwan mindern könnte, werden viele Jahre in Anspruch nehmen – wenn sie überhaupt erfolgreich sind. Mindestens bis dahin bleibt eine militärische Eskalation um Taiwan möglich und damit ein Krieg zwischen der Volksrepublik China und den USA.
Im März 2024 erscheint im Dietz-Verlag Berlin Ralf Ruckus’ Buch «Der kommunistische Weg in den Kapitalismus. Wie soziale Unruhen und deren Eindämmung die Entwicklung Chinas seit 1949 vorantreiben».