Raiffeisen-Prozess: Entgrenzte Männlichkeit
Der Gerichtsprozess um Pierin Vincenz wirft Fragen auf um Männlichkeit, Sexismus und die Grundstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft. Einschätzungen einer Geschlechterforscherin.
Ungetreue Geschäftsbesorgung, gewerbsmässiger Betrug, Urkundenfälschung und passive Bestechung. Die Bestürzung darüber ist gross, dass diese Anklagen ausgerechnet den charmanten Pierin Vincenz treffen, der so anders schien als die arroganten Banker vom Paradeplatz. Er war langjähriger Chef der Raiffeisen-Gruppe und beeindruckte viele mit seiner steilen Karriere. Er baute die kleine Raiffeisenbank zur drittgrössten Bank in der Schweiz auf.
Letzte Woche begann der Prozess gegen Vincenz und sechs weitere Mitangeklagte vor dem Zürcher Bezirksgericht. Im Prozess geht es um womöglich unrechtmässige Gewinne im Umfang von rund 25 Millionen Franken und fragwürdige Spesenabrechnungen über fast 600 000 Franken. Besonders zu reden gibt, dass etwa ein Drittel dieser Spesen für Champagner, Cabaretbesuche und Stripperinnen in Nachtclubs ausgegeben wurde. Die konkreten Verfehlungen der Person mögen spektakulär sein. Doch im Grunde geht es um die Grundstrukturen der Finanzwelt sowie der Gesellschaft insgesamt.
Kampf der Sphären
Worum wird bei diesem Konflikt eigentlich gestritten? Was erregt so viel Aufmerksamkeit? Aufregende Sexskandale? Der öffentliche Vertrauensbruch? Der Graubereich zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem? All dies trifft zu, denn immer geht es um Grenzen und deren Überschreitungen. Diese zeichnen die Struktur bürgerlicher Männlichkeit als auch die bürgerliche Gesellschaft insgesamt aus.
Zur Gesellschaft gehört seit der bürgerlichen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts eine Trennung zwischen Ökonomie, Staat und Privatsphäre. Erstere gelten als männliche Bereiche, Letztere als weiblich. Dabei kommt es auch zu Auseinandersetzungen zwischen den männlichen Sphären. Vater Staat und der Unternehmer stehen in einem ständigen Konkurrenzkampf. Die raffinierte Suche nach Schlupflöchern ist das Erfolgsrezept des Unternehmers für die eigene Karriere. Hingegen versucht der Gesetzgeber, mit disziplinierendem Appell oder strafender Hand mal mehr, mal weniger die Schlupflöcher zu stopfen.
Ganz grundsätzlich wird darüber gestritten, ob die Wirtschaft, die Politik oder die Privatsphäre der Ort der Freiheit ist.* Gegenüber beiden männlichen Sphären ist die weiblich und familial konnotierte Privatsphäre abgewertet. Gemeinsam haben die Privatwirtschaft und die Privatsphäre, dass sie nicht direkt unter der Leitung des Staates stehen, gleichzeitig jedoch nur innerhalb der Gesetze und der Vertragsstrukturen des Staates bestehen können (zum Beispiel durch Arbeits- oder Eheverträge).
Die verschiedenen Grenzkonflikte, um die es im Raiffeisen-Prozess geht, hängen in der bürgerlichen, insbesondere unternehmerischen Männlichkeit zusammen. Erfolgreich und anerkannt ist, wer «jemand» wird. Zu «jemandem» wird «Mann», indem man Karriere macht, in der Unternehmenshierarchie möglichst weit aufsteigt und über Status, Geld und Macht verfügt.
Der französische Soziologie Pierre Bourdieu sprach darum von der «libido dominandi», dem Begehren, zu beherrschen. Dieses Begehren war für ihn ein zentrales Element männlicher Herrschaft. Erst das erfolgreich durchgesetzte Bedürfnis, Herrschaft und Kontrolle über andere auszuüben und den eigenen Willen auch in anderen umzusetzen, führt dazu, dass andere eben beherrscht und dem Willen einiger unterworfen werden. Die (Männer-)Welt sähe anders aus, wenn nicht die eigenen Normen und Bedürfnisse gesetzt, sondern bestmögliche Arrangements im Sinne aller angestrebt würden.
Doch Anerkennung von Männern funktioniert oft über Macht, über «Anerkennung der Macht als das Prinzip aller Beziehungen», wie es die Vertreter der Kritischen Theorie Max Horkheimer und Theodor Adorno formulierten. Die verschiedenen Grenzüberschreitungen sind in diesem Streben nach Macht angelegt. «The sky is your limit», lautet das Erfolgsrezept.
Abwertung als Teil des Machtstrebens
Das Machtstreben und die Grenzüberschreitungen betreffen nicht nur die Wirtschaft und das Recht. Auch in den Beziehungen zu Frauen, zur Familie oder in anderen privaten Beziehungen wird dieses Prinzip gelebt. Die Verfügung über den weiblichen Körper zur Erfüllung von Lust und das «Recht», Frauen im öffentlichen Raum, finanziell und in Liebesbeziehungen «in ihre Schranken zu weisen», sind von Beginn an zentrale Elemente dieser Gesellschaft. Und sie sind eng verbunden mit bürgerlichen Männlichkeitsvorstellungen.
Zwar hat sich im Vergleich zur Hochblüte der bürgerlichen Gesellschaft einiges geändert: Die Geschlechtsvormundschaft ist mittlerweile aufgehoben, Frauen dürfen über ihr Vermögen und ihre Einkünfte verfügen und wählen. Auch ist die Vergewaltigung in der Ehe – zwar erst, aber immerhin – seit 1992 strafbar und seit 2004 ein Offizialdelikt. Doch die Abwertung von Weiblichkeit und von Eigenschaften, die mit Weiblichkeit verbunden werden, wie Hilfsbereitschaft, Sorge, Empathie oder Mitgefühl besteht fort und führt zu anhaltender tatsächlicher Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.
Die Abwertung dieser Eigenschaften ermöglicht erst die exorbitanten Höhenflüge vieler Businessmänner, die auf Verantwortungs- und Sorglosigkeit gegenüber anderen beruhen. Auch der Besuch von Striplokalen, die Liebschaften und das Hintanstellen der Bedürfnisse der Familie sind Teil dieses männlichen Machtstrebens. In diesen Punkten ist Vincenz nicht so unkonventionell, wie er oft dargestellt wird, sondern entspricht ganz konventionell bürgerlichen Männlichkeitsvorstellungen des Unternehmers.
Brüchigkeit als Chance
Der jetzige Finanzskandal lässt erkennen, wie Männlichkeit mit dem Streben nach Macht sowie mit Korruption und Sexismus zusammenhängt. Auch werden in der Debatte um den Prozess die Konflikthaftigkeit und die Fragilität der bürgerlichen Sphärentrennung deutlich. Erleben wir in diesem Prozess eine Stärkung der Justiz oder eher ein verzweifeltes Aufbäumen gegen die Macht der Finanzbranche? Denn die Brüchigkeit des bürgerlichen Arrangements ist vielleicht auch Effekt seiner Zersetzung durch multinationale Akteure, die nationale Gesetze umgehen. Auch sie erweitern ihren Handlungsspielraum, indem sie Schlupflöcher nutzen, pflegen und gezielt schaffen.
Dies wiederum schränkt die regulatorische Arbeit der Justiz stark ein. Nationalstaaten müssten koordiniert und solidarisch neue Entscheidungsprozesse mit globaler Tragweite entwickeln. Die Brüchigkeit kann dabei eine Chance sein, denn sie könnte einen Wandel eröffnen hin zu demokratischeren globalen Formen des Zusammenlebens mit mehr gemeinsamer Selbstbestimmung über die Sphärentrennung hinweg. Gelingen Absprachen auf globaler Ebene jedoch nicht, um demokratische Strukturen und Menschenrechte zu sichern, besteht die Gefahr, die bürgerliche Sphärentrennung nicht im emanzipatorischen Sinn zu überwinden, sondern neue globale autoritäre Strukturen zu begünstigen.
Anika Thym promoviert in Geschlechterforschung an der Universität Basel zu kritischen (Selbst-)Reflexionen von Männern aus Führungspositionen in der Finanzbranche und hat dazu über zwanzig Interviews mit Führungskräften aus international operierenden Schweizer Finanzinstituten geführt.
* Korrigendum vom 4. Februar 2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion wurde die Privatsphäre nicht erwähnt.