Diesseits von Gut und Böse: Vielfältiges Unbehagen
So ein Krieg relativiert ja alles. Doch auch in der Schweiz gibts noch genug, worüber man sich ärgern kann – so den «Chat», den die «NZZ am Sonntag» jetzt monatlich in der Rubrik «Freiheit» abdrucken will. Da chatten ein Ökonom und ein Philosoph, beide früher in Führungspositionen bei der NZZ; die Kommunikationsform soll wohl fortschrittlich wirken. Unter dem Titel «Weniger haben als andere ist nicht Armut» fragen sie sich, «wieso Neoliberale im Ruf stehen, kaltherzige Kapitalisten zu sein». Die «Väter der Sozialen Marktwirtschaft» hätten gewusst, dass es «zwar einen sozialen Reparaturbetrieb braucht, wenn das Schicksal besonders schlimm zuschlägt, aber nicht viel mehr. […] Die Sozialpolitik sollte ursprünglich echtes Elend verhindern.»
«Echtes Elend» sind für die Herren offenbar nur Geschicke wie das des Mädchens mit den Zündhölzern, das bei Hans Christian Andersen im Hemdchen erfriert. Oder Menschen, die – gesunder Gliedmassen verlustig – bettelnd auf Brettern durch Metropolen des Globalen Südens rollen.
«Je grösser der objektive Wohlstand, desto geringer das subjektive Wohlbefinden», finden sie, es gehe «um ein Unbehagen an der Ungleichheit, zum Teil auch um Neid». Wenn Kinder nicht auf Schulreisen können, alte Menschen mit leerer Tasche durch den Supermarkt gehen, um unter Leute zu kommen, Familien für Gratisessen anstehen, weil zwei Einkommen nicht reichen – all das gilt den Herren als «Unbehagen an der Ungleichheit». «Leistungsloses Grundeinkommen – das klingt frivol», bilanzieren sie, da sei «nur schon die Terminologie verheerend». Stimmt. Sie lautet nämlich «bedingungsloses» Grundeinkommen.
Sollte sich die Sonntagsausgabe mit dieser Rubrik enger ans NZZ-Mutterhaus schmiegen («Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge»), wird auch in mir ein Unbehagen wachsen. Ein grosses!