Im Affekt: Self-Care in der Newshölle
Man lernt ja nie aus, auch dank des Internets und sozialer Medien, die eh besser sind als ihr Ruf. Oder kannten Sie den Begriff «Doomscrolling»? Dabei handelt es sich um das Phänomen, dass Menschen online exzessiv negative Nachrichten auf sich einprasseln lassen, was bevorzugt dann passiert, wenn gerade ein Mob das US-Kapitol stürmt oder Militärlaster in Norditalien Leichen abtransportieren. Laut Wikipedia ist der Begriff erst seit wenigen Jahren in Umlauf, er erinnert aber an ein Phänomen aus den Siebzigern: das sogenannte «mean world syndrome», das den Glauben bezeichnet, die Welt sei viel schlimmer, als sie faktisch ist – eine Folge von übermässiger Gewalt im Fernsehen, wie man damals meinte.
Dass Doomscrolling nicht gut fürs seelische Befinden ist, liegt auf der Hand, gerade da viele immer noch weniger soziale Kontakte als sonst haben und mit ihren Sorgen alleine sind. Dumm nur, dass seit ein paar Tagen die Nachrichten fast ausschliesslich aus Wasserstandsmeldungen zu einem eskalierenden Krieg und einer globalen Krise zwischen Supermächten bestehen. So kann man auf Twitter direkt nach der Eilmeldung, dass Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt wurden, weiter zu Hobbystrategen wischen, die bereits Karten posten, wo denn genau in Europa die Raketen einschlagen dürften. Dass es auch noch eine Pandemie und die Klimakrise gibt, liesse sich darüber fast vergessen.
Nun jammert man in Mitteleuropa auf hohem Niveau, und Videos von Influencer:innen, die sich im Wohnzimmer ihre Ängste wegtanzen, sind fast noch verstörender als der Gedanke an den Atomtod. Trotzdem muss man ja nach dem persönlichen Wohlbefinden schauen. Wenn uns also angesichts der Weltlage mal wieder alles zu viel wird, sollten wir Expert:innen zufolge den Austausch mit Freundinnen und Kollegen suchen: Die Konfrontation mit anderen Perspektiven rückt manches zurecht. Klappt auch per Telefon. Und selbst im Netz findet sich Rat, ein Twitter-User meinte neulich: «Self-Care ist wichtig, ich habe zum Beispiel mein Doomscrolling gerade in strahlender Sonne auf einer Parkbank betrieben.» Wobei das doch eher ein Tipp direkt aus der Hölle sein dürfte.
Für Unverbesserliche gibt es übrigens einen Twitter-Account, der auf Doomscrolling spezialisiert ist und stündlich Szenen aus dem apokalyptischen Gameklassiker «Doom» postet.