Im Affekt: Anziehungspunkte und Brandbeschleuniger
Wenn man verstehen will, was an diesem Ort utopisch ist, dann beginnt man am besten beim Abort. Es ist Sonntagmittag, seit vier Tagen dröhnen durchgehend irgendwo die Technobässe, alles scheint langsam aus den Fugen zu geraten, die Leute wirken immer verstrahlter und werden immer nackter. Aber egal wo man sich gerade befindet auf diesem hundert Hektar grossen Gelände, bevölkert von 70 000 Besucher:innen: Ein paar Gehminuten entfernt und nach kurzem Anstehen findet sich zuverlässig eine saubere Toilette mit ausreichend Papier. Der sogenannte freie Markt, so viel steht fest, hätte so etwas nie hinbekommen.
Ferienkommunismus nennen die Leute vom Verein Kulturkosmos das, was sie seit 1997 jährlich auf einem ehemaligen Militärflugplatz der Roten Armee in Mecklenburg-Vorpommern auf die Beine stellen: das Fusion Festival. Wenn man sich das aus der Nähe anschaut, leuchtet sofort ein, wieso das nicht bloss ein guter Slogan ist. Tausende Helfer:innen, viele von ihnen in linken Gruppen oder Kulturvereinen organisiert, bauen die Infrastruktur von vierzig Bühnen, Dancefloors, Theatern und unzähligen weiteren liebevoll geschmückten Orten auf und betreiben das Festival mit aktivistischer Emsigkeit und anarchistischem Humor. Profit macht hier niemand; kauft man eine Flasche Sekt, geht der Gewinn an Geflüchtete oder ein linkes Jugendhaus in der Region.
Gerade weil im Hintergrund alles so reibungslos läuft, kann sich in der Festivalerfahrung das Chaos im besten Sinn entfalten. Der Name Fusion Festival trifft ziemlich gut, was hier passiert: Die einzelnen Konzerte, Raves, Picknicks, Hochzeitsfeiern oder Pingpongturniere verschmelzen zu einem trippigen Sog. Die Bühnen sind Anziehungspunkte und Brandbeschleuniger, aber eigentlich wird alles rundherum irgendwie zur Bühne. Ein Ort der maximalen Zerstreuung, Ein- und Ausstiege überall, aber keine Leitplanken, was für eine Erfahrung man hier oder dort gerade machen soll. Hoffentlich sieht er dann tatsächlich ein bisschen so aus, der Kommunismus.
Vor dem Festival stoppte die Polizei einen Mann mit über 8000 LSD-Trips im Gepäck – es gab trotzdem von allem im Überfluss.