Von oben herab: Funkytown

Nr. 35 –

Stefan Gärtner über Berset im Strahlenmeer

Gestern Abend sassen wir in unserem Garten und hatten Mieterfest, und ich weiss jetzt nicht nur, was Lisa und Lukas aus dem zweiten Stock arbeiten, sondern auch, wie viel Miete die Familie, die vor uns im Erdgeschoss wohnte, gezahlt hat, bevor die neue Hausbesitzerin sich die Zeile des ihr garantiert völlig unbekannten Bernd Begemann zu Herzen nahm: «Schluss mit dem Quatsch, jetzt wird Geld verdient!» Es gibt Dinge, die will man nicht genauer wissen, weil man sie nämlich ahnt, aber irgendwann muss man der Wahrheit ins Auge sehen: dass man übers Ohr gehauen wird, und zwar jeden Monat wieder, und dass man darum irgendwann gehen und eine entzückende Hausgemeinschaft verlassen wird, ist der Skandal im Skandal.

Ich muss jetzt überlegen, was das nun ­eigentlich mit Alain Berset und dem Handymast in seinem Vorgarten zu tun hat. Ah, ich weiss es wieder: Der Handyempfang bei uns auf dem Berg ist, mit nur einem Empfangsstrich bei 4G, miserabel, und wäre ich eine dieser Plappertaschen, die ihr Telefon, Gott weiss warum, wie ein Frühstücksbrettchen vor den Mund halten, ich müsste mir dringend einen 5G-Mast auf dem Dach wünschen. Oder sagen wir: auf dem Nachbardach. Oder noch besser: auf irgend­einem Dach in nicht allzu gros­ser Nähe, denn «elektromagnetische Wellen technologischer Herkunft, insbesondere jene, die von der Mobilfunktechnologie ausgehen, haben schädliche Auswirkungen auf Mensch und Tier», wie es in dem Schreiben heisst, das die Familie des beliebten Bundesrats an ihre Heimatgemeinde Belfaux, Kanton Freiburg, geschickt hat, um ebenjenen Handymast zu verhindern, der jetzt tatsächlich nicht kommt, offiziell des Denkmalschutzes wegen, inoffiziell, tja, das weiss man nicht und wird es nie wissen.

Der Handymast lässt sich leider nicht in die Dritte Welt auslagern.

Mit den Funkmasten ist es wie mit Windrädern und Haushaltsabfällen: Irgendwo müssen sie hin, aber bitte nicht in meine Nähe. «Nimby» sagen sie in der englischen Welt dazu, «not in my backyard», und zwar lässt sich praktisch alles Schädliche in die Dritte Welt auslagern, der Handyfunkmast aber nun mal leider nicht, und also klebt er auf dem Hausdach, und seh ich das irgendwo, bin ich froh, dass ich unter einem anderen lebe. Ich mag schon nicht schlafen, wenn im Hotel der Fernseher auf Stand-by ist, und bilde mir ein, ich könnte den Strom hören.

Circa das hat sich auch die Frau eingebildet, die vor Jahren in einer Fernsehreportage vorkam und einen Kampf gehen einen nahen Funkmast führte, weil der sie krank mache, Schlaf- und Ruhelosigkeit, Kopfweh, derlei. Es gab da auch Atteste. Nun war der Funkmast zwischendurch gar nicht auf Sendung gewesen, und wer immer findet, heutzutage hätten die Tatsachen gegen die Empfindungen keine Chance mehr, mag jetzt applaudieren. Falls es nicht als Tatsache durchgehen muss, dass Leute nicht einmal dann in einem Wellenbad leben wollen, wenn es gar nicht nach Chlor riecht.

Trotzdem ist die Welt voller Funkmasten, und viele davon stehen auf Hausdächern. Die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens habe ich unterm Dach gewohnt, weil Dachwohnungen immer am günstigsten waren. Ob sie der Funkmast jetzt noch günstiger macht? Oder im Gegenteil teurer, wegen des überragenden Handyempfangs? Würde Alain Berset in unserer Wohnung wohnen (die er als Schweizer ja aus dem Kleingeldfach bezahlen könnte), hätte er vielleicht schon längst einen Brief geschrieben: «Elektromagnetische Wellen technologischer Herkunft, insbesondere jene, die von der Mobilfunktechnologie ausgehen, sind für moderne Kommunikation unabdingbar.» Und wenn niemand in die sauren Äpfel beisst, dann ist die Gesellschaft zum Scheitern verurteilt, und dass manche das häufiger müssen als andere und Funkmasten eher nicht auf dem Penthouse montiert sind, hat mit dem Prinzip der Arbeitsteilung zu tun, das die Menschheit, ich bitte, so erfolgreich gemacht hat.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.