Elektrohypersensitivität: Die Reise ins «Strahlenréduit»

Nr. 15 –

Kathrin Luginbühl kämpft seit 25 Jahren für weniger Elektrosmog. Kürzlich musste sie zum fünften Mal umziehen. Ihre Beschwerden sind nicht wissenschaftlich anerkannt – doch die Forschung macht kleine Fortschritte.

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Portraitfoto von Kathrin Luginbühl
Plötzliche Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Anspannung: Kathrin Luginbühl leidet unter elektromagnetischer Strahlung. Ein anerkanntes Krankheitsbild gibt es aber nicht.

In einer kalten Nacht im Februar wacht Kathrin Luginbühl mit einem Druck auf der Brust auf. Ihr Herz schlägt schnell und heftig. Sie zieht sich an, verlässt ihren Hausteil mitten in Hadlikon im Zürcher Oberland und geht zu einem Haus am Dorfrand. Hinter der Garage hat ihr eine Freundin einen Notschlafplatz eingerichtet. Luginbühl legt sich auf die Luftmatratze und kann nochmals kurz schlafen. Auf dem Weg zurück in ihr Haus spürt sie immer wieder stechende Schmerzen im Kopf. Auch der Druck auf dem Brustkorb ist nun stärker.

Für Luginbühl ist klar, dass elektromagnetische Strahlung die Schmerzen auslöst. Es sind dieselben Symptome, die sie seit Jahren kennt. Woher die Strahlung an diesem Morgen kommt, kann Luginbühl allerdings nicht genau einordnen. Aber sie weiss in diesen schwierigen Minuten: «Hadlikon ist zwar meine Heimat, doch ich kann hier nicht mehr leben.»

Ihr Entscheid zeichnete sich seit dem vergangenen Sommer ab. Damals erhielt sie das Urteil des Bundesgerichts. Dieses lehnte ihre Beschwerde gegen den Bau einer Salt-Mobilfunkantenne auf einem Wohnblock in der Nachbarschaft ab. Über sieben Jahre hatte sie sich mit weiteren Anwohner:innen dagegen gewehrt. Vergeblich – Ende Februar würde die Antenne in Betrieb gehen. Und dann, so wusste Luginbühl, würde es nicht lange dauern, bis auch Swisscom und Sunrise im Dorf ihre Antennen aufstellten.

Hadlikon war fünfzehn Jahre ohne nennenswerte Mobilfunkstrahlung ausgekommen, seit ein Bauer eine Antenne auf seinem Grundstück wieder hatte demontieren lassen. Seine Kälber waren erblindet, was er auf die Strahlung zurückführte. Manche Menschen zogen nach Hadlikon, weil sie nach einem Wohnort mit wenig Strahlung suchten.

Ein Cocktail aus Frequenzen

Wie viele andere mit ähnlichen Beschwerden sieht Luginbühl die Ursache für die plötzlichen Kopfschmerzen, die Schlafstörungen und die Anspannung in elektromagnetischer Strahlung. Sie kennt die Symptome seit den neunziger Jahren, als sie ihren Bürojob aufgeben musste, weil die PCs, Laptops und Handys die Arbeit veränderten. Sie leidet auch auf Zugfahrten, wenn alle um sie herum auf ihre Smartphones starren. Aber sie weiss auch, wie gut sie sich fühlt, wie fokussiert sie arbeiten kann, wenn ihre Umgebung weitgehend strahlenfrei ist.

Doch dies ist heute an immer weniger Orten der Fall. Der Ausbau des Mobilfunknetzes erschliesst auch abgelegene Orte. Hinzu kommen private WLAN-Router oder öffentliche Sender fürs digitale Radio. Immer weitere Anwendungen tauschen dank drahtloser Vernetzung blitzschnell Informationen aus.

Laufende Expositionsmessungen des Bundesamts für Umwelt (Bafu) zeigen, dass es sich bei der gemessenen Strahlung zumeist um einen Cocktail unterschiedlicher Frequenzen, Quellen und Stärken handelt.

Luginbühl hat zahlreiche Freund:innen, die sich selber nicht als elektrosensibel bezeichnen, ihr aber glauben. Doch sie erntet auch immer wieder Unverständnis, wenn sie Nachbar:innen sagt, sie spüre deren Router oder das drahtlose Telefon. «Aber ich kann ihnen ja auch keinen Vorwurf machen. Die Leute werden von den zuständigen Stellen nicht über die möglichen Auswirkungen der Strahlung informiert.»

Tatsächlich ist sogenannte Elektrohypersensitivität (EHS) umstritten. Bis heute fehlt eine breit abgestützte wissenschaftliche Erklärung dafür, dass Kathrin Luginbühl strahlungsbedingt Kopfschmerzen bekommt, obwohl die Grenzwerte eingehalten sind. Und doch geben Studien zahlreiche Hinweise darauf, dass EHS existiert.

Einzel- statt Massentests

Als eine der ersten hielt eine ETH-Studie im Jahr 2000 fest, dass es Menschen gebe, «die elektrische und magnetische Felder im Feldstärkebereich unterhalb der Immissionsgrenzwerte bewusst wahrnehmen können oder deren Wohlbefinden und Verhalten durch elektrische und magnetische Felder beeinflusst wird».

Einige Forschungsprojekte zeigten allerdings, dass Menschen, die sich selber als elektrosensibel bezeichnen, nicht statistisch signifikant anders auf elektromagnetische Strahlung reagierten als die restliche Bevölkerung. Manche gaben an, die Strahlung spüren zu können, wenn diese gar nicht existierte. Zudem wurde beobachtet: Je stärker Betroffene glaubten, Strahlung ausgesetzt zu sein, desto stärker litten sie.

Doch verschiedene Forscher:innen haben darauf hingewiesen, dass derartige Effekte auch stark mit der Forschungsanlage zusammenhängen, dass wenige wirkliche EHS-Betroffene in statistischen Auswertungen grosser Gruppen untergehen und Befragungen ungenaue Ergebnisse liefern können. Auch deshalb versprachen sich Forscher:innen in letzter Zeit am meisten von individuellen Provokationsstudien, also wiederholten Tests bei Einzelpersonen mit möglichst genauer Expositionsmessung. «Sollte in einem solchen Versuchsansatz die Existenz einzelner Personen mit erhöhter Strahlungsempfindlichkeit zweifelsfrei nachgewiesen werden können, wäre auch aus wissenschaftlicher Sicht eine Neubeurteilung erforderlich», hiess es bereits 2012 in einem Schweizer Expert:innenbericht zum Thema.

Doch entsprechende Forschung ist aufwendig und methodisch komplex. Der Schweizer Bericht erwähnt eine US-Studie von 2011. Andrew Marino, der verantwortliche Forscher, schreibt auf Anfrage: «Wir kamen zum Schluss, dass Elektrohypersensitivität existiert. Aber alle, die darunter leiden, sind einzigartig. Die einzige Forschungsanlage, die EHS entdecken kann, ist unser Design: Man untersucht, wie ein einzelner Mensch auf ein elektromagnetisches Feld reagiert, und vergleicht dies mit seiner Reaktion auf eine Scheinexposition.»

Zwei Wissenschaftler der University of Colorado Boulder, Frank Barnes und Eugene R. Freeman jr., fassten den Forschungsstand 2022 differenziert zusammen. Sie stellten die Hypothese auf, dass die möglichen Wirkungen von Mobilfunkstrahlung von Person zu Person variieren. Es komme immer darauf an, wie die Person welcher Strahlung ausgesetzt sei und ob sie allenfalls aus anderen Gründen geschwächt sei.

Ist es die Psyche?

Hadlikon, das Dorf am Fuss des Bachtels, war Kathrin Luginbühls Zufluchtsort. Sie ist hier aufgewachsen. Und nachdem sie Wohnungen in Zürich, Wetzikon, Flawil und Fehraltorf wegen Antennen in der Nachbarschaft verlassen musste, kehrte sie 2013 ins Elternhaus zurück. Anders als in Flawil musste sie die Nächte nicht im vor Strahlung weitgehend geschützten Keller verbringen, um ausgeruht aufwachen zu können.

Die ausgebildete Direktionsassistentin wurde kürzlich pensioniert. Davor lebte sie 27 Jahre von einer IV-Rente. Etwa gleich lang engagiert sie sich mit ihren bescheidenen Mitteln – ohne Geld und juristische Ausbildung – auch für die Eindämmung des Mobilfunkausbaus. Noch heute hilft sie Anwohner:innen bei Einsprachen gegen Antennen und sagt: «Ich mache diese Arbeit auch für all die Menschen, die nicht die Mittel, den Mut oder die Kraft haben, sich zu wehren.» Vor wenigen Wochen erhielt sie bei einem Fall vor Bundesgericht erstmals recht. «Ich konnte meine Talente leider nicht auf dem Arbeitsmarkt einbringen. Aber das Engagement hilft mir, meiner selber durchlebten Geschichte eine Art Sinn abzugewinnen.»

in Hadlikon wird eine Handyantenne auf ein Hausdach montiert
Hadlikon war ein Rückzugsort für Strahlengeplagte, doch alle Einsprachen gegen die Handyantenne nützten nichts.

Ihr Kampf konzentriert sich auf den Schutz vor der Strahlung von Mobilfunkantennen. Doch dieser ist sehr schwierig. Denn auch wenn Luginbühl es seit Jahrzehnten am eigenen Körper spürt, kann sie nicht wie erfordert beweisen, dass ihre Leiden direkt auf den Elektrosmog zurückgehen. Und dies müsste sie können, um von Gerichten und Behörden recht zu erhalten.

Weil Elektrohypersensitivität in der Schweiz bis heute nicht als Krankheitsbild anerkannt ist, wurde Luginbühls IV-Rente mit psychischen Problemen begründet. Darauf zog sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und pochte auf ihre Rechte auf eine korrekte Diagnose, körperliche Unversehrtheit und den Schutz ihrer Privatsphäre. Das Gericht prüfte ihren Fall, weil ihre Geschichte ausserordentlich gut dokumentiert war.

Luginbühl wollte den Strassburger Richter:innen auch mit mehreren ärztlichen Attesten zeigen, dass es keineswegs ihre Psyche, sondern der Elektrosmog war, der sie arbeitsunfähig machte. Schliesslich war sie nie ernsthaft krank gewesen und hatte auch keine Unfälle erlitten. Auch heute sagt sie: «Ich nehme keine Medikamente, habe nicht mal einen Hausarzt.»

Ein Zürcher Psychiater fand im Herbst 2000 «keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer psychischen Störung».

Die EGMR-Richter:innen wiesen Luginbühls Klage in einem schriftlichen Verfahren ab. Die von ihr angeführten gesundheitlichen Auswirkungen elektromagnetischer Strahlung seien wissenschaftlich nicht erwiesen. Sie anerkannten grundsätzlich, dass der Artikel zum Schutz von Familie und Privatsphäre auf die Belastung durch Elektrosmog anwendbar wäre. Doch sie kamen zum Schluss, dass die Schweiz über die gesetzlichen Grundlagen verfüge, die betroffenen verletzlichen Menschen besonders zu schützen, wenn der Gefährdungsnachweis erbracht sei.

Unerkannte Grunderkrankungen

In Deutschland untersucht der Medizinphysiker Lebrecht von Klitzing seit 2003 EHS-Betroffene. Von Klitzing studierte Physik, promovierte in Biochemie, leitete 27 Jahre die klinisch-experimentelle Forschung an der Medizinischen Universität Lübeck. Er hat bereits über 400 Betroffene untersucht, die auch aus der Schweiz, Holland oder Belgien zu ihm kommen und für die Untersuchung je nach Aufwand etwas über 400 Euro bezahlen.

«Ich sehe sehr schnell, ob ein Mensch auf die Strahlung reagiert», sagt er am Telefon. Was die Leute vorgeben zu fühlen, interessiert ihn dabei nicht. Vielmehr misst von Klitzing die Reaktion des vegetativen Nervensystems über Elektrokardiogramm und Elektromyografie sowie der Mikrozirkulation in kleinsten Blutgefässen auf die Strahlungsexposition durch einen WLAN-Router.

«Manchen, die glauben, sie seien elektrosensibel, kann ich das Gegenteil beweisen. Doch in vielen Fällen existiert eine unerkannte Grunderkrankung, etwa des Darms, oder eine Störung des Kaliumhaushalts. Kommt noch die Strahlung hinzu, gerät die Stoffwechselregulation aus dem Lot. Irgendwann ist die Abwehrkapazität des Körpers erschöpft.»

In der Forschung fehle es an physiologischer Expertise, sagt von Klitzing. «Um EHS zu verstehen, muss man in erster Linie den menschlichen Körper verstehen – und nicht die Strahlung.» Von Klitzing ist schon länger pensioniert. Nun möchte er erreichen, dass Behörden und Wissenschaft seine Methode ernst nehmen und den Ansatz weiterverfolgen. In Deutschland geschieht dies bisher nicht.

Kathrin Luginbühl schaut aus einem Fenster ihres Hauses
Geflüchtet vor Elektrosmog: Kathrin Luginbühl lebt heute fern von Handyantennen und Nachbar:innen mit WLAN.

Vertreter:innen des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) besuchten von Klitzings Labor. Auf Anfrage schreibt das Bundesamt: «Nach Auffassung des BfS erfüllen die Qualität der Arbeit und die Aussagekraft der Ergebnisse nicht die wissenschaftlichen Anforderungen, um als Grundlage für die Rechtfertigung weiterer ähnlicher Untersuchungen zu dienen.»

Von Klitzing sagt, das Amt habe seine Arbeit bis heute nicht verstanden. Er sei jederzeit gerne bereit, seine Erkenntnisse von einem wissenschaftlichen Labor verifizieren zu lassen.

Was sagt die Berenis, wie die «Beratende Expertinnen- und Expertengruppe für nichtionisierende Strahlung» des Schweizer Bundesamts für Umwelt kurz genannt wird, zu von Klitzings Arbeit? Auf Anfrage heisst es, sie könne von Klitzings Arbeiten nicht beurteilen und auch keine Empfehlungen aussprechen. «Dass erkannte oder nicht-erkannte Schwächungen und Einflüsse bei EHS-Betroffenen eine Rolle spielen könnten, erachten wir aber als nachvollziehbar und würden solide Forschungsansätze in diese Richtung begrüssen und unterstützen.»

Zu einem ähnlichen Schluss wie von Klitzing kam letztes Jahr ein Team um die renommierte Biologieprofessorin Margaret Ahmad an der Pariser Universität Sorbonne. Es untersuchte einen 25-Jährigen bis auf Zellebene. Der Mann leidet an denselben Symptomen, die Luginbühl angibt. Die Biolog:innen vermuten, dass seine bereits geschwächte Körperabwehr als Reaktion auf die Strahlung jeweils eine übersteigerte Immunreaktion auslöst. Doch erwiesen sei dies nicht, und ihre Resultate seien in keiner Weise zu generalisieren, schrieben die Autor:innen. Sie würden aber zu allem passen, was bisher über EHS bekannt sei, heisst es im Bericht.

Befangenes Bundesamt?

Luginbühl weiss, dass ihr breit akzeptierte wissenschaftliche Beweise fehlen. Gleichwohl ist sie überzeugt, dass sie als besonders empfindliche Person nach dem Gesetz besser geschützt sein müsste.

Das Schweizer Umweltschutzgesetz orientiert sich nämlich am Vorsorgeprinzip. Damit sollen bereits Risiken und nicht erst erwiesene Schäden vermieden werden. Demnach braucht es keinen wissenschaftlichen Beweis, dass Elektrosmog schädlich ist – die Wahrscheinlichkeit reicht und müsste in eine Güterabwägung einfliessen.

Nach der bisherigen Rechtsprechung sieht das Bundesgericht die Vorsorge bei der Mobilfunkstrahlung genug berücksichtigt, weil die Schweiz strenger ist, als es das internationale Forscher:innenkonsortium ICNIRP empfiehlt. Die vorsorglichen Grenzwerte betragen hierzulande nämlich ein Zehntel des ICNIRP-Werts. Sie orientieren sich an der durch die Strahlung verursachten Hauterwärmung.

Dennoch sagt Luginbühl, sie leide seit über zwei Jahrzehnten bei Strahlungswerten deutlich unterhalb der vorsorglichen Grenzwerte.

Dies erachteten die zuständigen Behörden auch nicht als unwahrscheinlich – zumindest in der Vergangenheit. Im erläuternden Bericht zur ersten Bafu-Schutzverordnung von 1999 heisst es, dass die vorsorglichen Grenzwerte den Kriterien des Schweizer Umweltschutzgesetzes nicht genügten und die Schweiz deshalb eigentlich eigene Grenzwerte festlegen müsste, die auch andere Kriterien als die Erwärmung der Haut berücksichtigen. Dafür fehle jedoch die nötige Datenbasis.

Mirina Grosz ist auf öffentliches Recht und Umweltrecht spezialisierte Anwältin sowie Privatdozentin für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht an der Universität Basel. Sie sagt: «Als juristisches Gremium muss das Bundesgericht naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Studien in die Rechtssprache und -systematik übersetzen. Es kann naturwissenschaftliche Hintergründe nicht selber erarbeiten und ist für ihre fachspezifische Einordnung häufig auf externe Expertise angewiesen.»

Bei seiner Beurteilung stützt sich das Bundesgericht seit Jahren auf Stellungnahmen des Bafu. Dort ist die Abteilung Lärm und NIS (nichtionisierende Strahlung) zuständig für den Schutz von Menschen und Umwelt vor elektromagnetischen Feldern. Das Bafu gehört innerhalb der Bundesverwaltung zu Bundesrat Albert Röstis Infrastrukturdepartement Uvek, wo auch das Bundesamt für Kommunikation (Bakom) angesiedelt ist. Dieses unterhält enge Beziehungen zur Swisscom und ist für die Schweizer Mobilfunknetzinfrastruktur zuständig.

Kathrin Luginbühl steht vor ihrem Haus, welches abgelegen im Wald liegt
Über eine Schotterstrasse ist Kathrin Luginbühls neues Zuhause auch per Auto erreichbar – wenn kein Schnee liegt.

Deutlich wurde vor einem Jahr die Anwaltskanzlei Cottinelli in einem Kurzgutachten. Darin ging es um einen ähnlichen Fall wie Luginbühls. Die Kanzlei beurteilte das Vorgehen der Bundesrichter:innen als «rechtsstaatlich problematisch», weil die Neutralität des Bafu angezweifelt werden könne. Deshalb sei es «in den vorliegenden Konstellationen angezeigt, amtsexterne Sachverständige beizuziehen».

Luginbühl verlangt: «Das Bundesgericht müsste Direktbetroffene sowie neutrale Expert:innen direkt befragen und den umstrittenen Forschungsstand selber beurteilen.»

Auch in Stellungnahmen für Bundesgerichtsfälle anerkennt der Bund das Leiden von Menschen wie Kathrin Luginbühl als «real». Doch für Betroffene erscheint das behördliche Interesse an ihrer Realität oberflächlich. Seit Jahren schreibt Luginbühl Briefe an Bundesrät:innen und Parlamentarier:innen und bietet an, persönlich in Sitzungen oder an Anhörungen vorzusprechen – vergeblich. Manche antworten brieflich, etwa Bundesrat Rösti. Er verweist auf die 2023 eingerichtete medizinische Fachstelle für Elektrosensibilität MedNIS. Diese berät Menschen, die gesundheitliche Probleme auf elektromagnetische Strahlung zurückführen, vermittelt Ärzt:innen und führt eine Studie durch, um Daten über Elektrosensible zu sammeln. Dafür müssen diese einen Fragebogen ausfüllen.

Kathrin Luginbühl hat dies auch getan. Sie geht davon aus, dass die MedNIS ihre Arbeit gewissenhaft verrichtet. Doch sie ist vom Vorgehen nicht überzeugt: «Ich habe die Vermutung, dass man uns mit Verweis auf die laufende Studie einmal mehr ein paar Jahre hinhalten will. Doch wir brauchen jetzt dringend Hilfe!» Konkret fordert Luginbühl schon länger strahlenfreie Zonen.

Die Ohnmacht der MedNIS-Verantwortlichen las sie aus einem Interview mit der leitenden Ärztin, Diana Walther: Es sei wichtig, dass Betroffene die Strahlung, der sie ausgesetzt seien, reduzieren könnten. Dabei müsse aber die Verhältnismässigkeit gewahrt sein, damit die Betroffenen nicht etwa komplett sozial isoliert würden.

Allein im Wald

Kathrin Luginbühl verlässt Hadlikon an einem Montag im Februar. Der Abschied fällt ihr schwer. Die Mutter bräuchte in absehbarer Zeit mehr Hilfe im Alltag, und da sind auch Nachbarn und Freundinnen in Hadlikon. Einige kennt sie seit ihrer Kindheit. Ein paar haben ihr den nun voll gepackten Subaru geschenkt. Ein anderer Nachbar hat ihr einen Parkplatz dafür überlassen. Und viele im Dorf haben Luginbühl ernst genommen und unterstützt.

Weil sie viele Jahre kein Auto mehr gelenkt hat, fährt sie vorsichtig: zuerst über den Rickenpass ins Toggenburg und von da über die Schwägalp. Sie hat diesen Tag gewählt, weil sie weiss, dass auf dem letzten, steilen Schotterweg, der von der geteerten Strasse zur Waldhütte führt, gerade kein Schnee liegt.

Jahrelang diente ihr das Holzhäuschen auf der Waldlichtung am Hang zwischen Urnäsch und Säntis als Erholungsort. «Strahlenréduit» nannte sie es immer, denn es gibt weder eine Mobilfunkantenne noch Nachbar:innen mit WLAN in der Nähe. Im Wald dahinter wachsen Steinpilze, und im kleinen Teich quaken im Sommer die Frösche.

Aber das Häuschen steht weit oberhalb des Dorfs. Es hat weder Strom- noch Telefonanschluss. Heizen kann sie einzig mit Holz im Küchenofen. Das Wasser fliesst nur draussen im Brunnen. Nun soll es ihr Zuhause sein. «Ich fühle mich gegenüber anderen Betroffenen privilegiert», sagt Luginbühl. «Aber ich finde es auch beschämend für ein Land wie die Schweiz, dass Menschen wie ich im eigenen Land aus ihrem Zuhause flüchten müssen.»

Zitierte Studien:

Überblick von 2024:
www.sciencedirect.com

ETH-Studie von 2000 (PDF-Datei):
www.research-collection.ethz.ch

Individuelle Provokationsstudien:
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Andrew Marino und andere 2011:
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Schweizer Expert:innenbericht von 2012 (PDF-Datei):
www.emf.ethz.ch

University of Colorado:
www.frontiersin.org

Margaret Ahmad und andere:
www.tandfonline.com