Medien: Alles für die Aufmerksamkeit

Nr. 36 –

Stars vor Gericht, Weisse mit Dreadlocks, eine Regierungschefin in einem Partyvideo: Wie wärs mit einer Medienethik des Verzichts?

Symbolbild: Blauer Pfau welcher kräht
Einfach mal Klappe halten: Das ist auch im Journalismus nicht verboten. Foto: Joe Blossom, Alamy

In ihrem Buch «Die Verlockung des Autoritären» erzählt Anne Applebaum, wie der spätere britische Premierminister Boris Johnson Ende der 1980er Jahre als Korrespondent des konservativen «Daily Telegraph» nach Brüssel geschickt wurde, wo er Geschichten über den Irrsinn von EU-Regulierungen zu seiner Spezialität machte – die britische Wurst sei in Gefahr, Doppeldeckerbusse sollten verboten werden und dergleichen. Die Geschichten waren zwar oft mehr oder weniger erfunden, kamen aber so gut an, dass andere Medien Druck verspürten, nachziehen zu müssen. So wurde die Berichterstattung über den Regel­wahn der EU in britischen Medien bald zu einem beliebten journalistischen Genre.

Wo eine gesellschaftliche Nachfrage erfolgreich aufgespürt und mit einem entsprechenden Angebot befriedigt wird, da findet sich bald Konkurren­z. Das gilt auch für die Aufmerksamkeitsökonomie, und auch hier stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung. Dass Johnson, der in seiner Karriere nicht gerade durch einen Hang zur Askese aufgefallen ist, einen Hunger nach narrativem Ressentiment ausnutzen würde, ist kaum überraschend. Aber hätten andere Journalist:innen nicht darauf verzichten müssen?

Johnny Depp aus jeder Ritze

Die Frage, ob es angemessen sein könnte, über etwas nicht zu berichten, scheint im redaktionellen Alltag selten eine Rolle zu spielen. Dabei kann ein Mangel an Zurückhaltung gravierende Folgen haben, wie das Beispiel der EU-feindlichen Anekdotensammlungen zeigt. Im Fall einer solchen Nachfrage folgt das mediale Angebot der Zwangsläufigkeit des narrativen Kapitalismus, der einen Hunger nach Geschichten befriedigen muss, wenn er ihn erst einmal diagnostiziert hat – ein Prozess, der durch die Digitalisierung noch beschleunigt und erhitzt wurde.

Die Vorstellung, bewusst über etwas nicht zu berichten, erscheint sofort zwielichtig.

Diese Erhitzung hat dazu geführt, dass man sich als Nutzer:in oft überfordert fühlt, erschlagen von einer Unmenge an arbiträren Informationen und Debatten, die auf einen einprasseln. Ein gutes Beispiel dafür ist die juristische Auseinandersetzung zwischen Amber Heard und Johnny Depp, der man monatelang kaum entkam. Die Informatio­nen quollen aus jeder Ritze des Diskurses, es war der Inbegriff des unentrinnbaren Medienereignisses. Oft sind solche Ereignisse mit einem moralischen und politischen Konfliktpotenzial aufgeladen, das schnelle Lagerbildung begünstigt. Um den Fall Heard/Depp entwickelten sich in kürzester Zeit kultartige Communitys, insbesondere die Fans von Depp gingen online extrem aggressiv auf andere los.

Feuilleton im Fressrausch

Es scheint ein guter Moment zu sein, um über eine Medienethik des aufmerk­­­sam­keits­ökonomischen Verzichts nachzudenken. Zum einen müssen sich die Nut­zer:in­nen fragen, ob sie durch ihr Klicken und Teilen nicht selbst die Schleusen für die Welle aus Dreck geöffnet haben, die sie danach lautstark beklagen. Aber auch die Medien müssen sich fragen, ob sie sich an dieser Form von Ökonomie beteiligen sollten. Eine Ethik des Verzichts würde bedeuten, dass man bewusst über bestimmte Geschichten nicht berichtet, bestimmte Prozesse nicht analysiert, bestimmte Konflikte nicht kommentiert – gerade dann, wenn die Nachfrage danach angeblich besonders hoch ist. Eine Reflexion über mögliche Kategorien des Nichtberichtens könnte helfen, die exzessive Beschleunigung der digitalen Medienöffentlichkeit abzubremsen.

Die Digitalisierung hat die moderne Aufmerksamkeitsökonomie mit ihrem toxischen Verhältnis von Angebot und Nachfrage natürlich nicht erfunden. Doch die genaue Messbarkeit von Klicks und anderen Formen der Aufmerksamkeit schärft das Bewusstsein dafür, was eine konkrete Nachfrage ausmacht. Wenn man weiss, was viele Menschen interessiert, dann möchte man es ihnen auch geben.

Wer schon einmal in einem redaktionellen Kontext gearbeitet hat, kennt das Glücksgefühl, wenn ein Text durch die Decke geht, viele Klicks, Retweets und Kommentare erzeugt. Diese Form von Aufmerksamkeit ist und bleibt eine wichtige Währung für publizistischen Erfolg. Und ein solcher Erfolg beantwortet dann automatisch die Frage nach der Relevanz: Man hat wohl einen Nerv getroffen!

Allerdings lässt sich Erfolg – gerade im Zeitalter metrischer Logiken – recht gut voraussehen. Wenn ein Artikel über die Absurditäten der «Gendersprache» einmal einen Klicktriumph erzeugt hat, kann man sich sicher sein, dass auch der nächste Artikel dieser Art einschlagen wird. So erklärt sich etwa die eigentümliche mediale Obsession mit Konflikten über Dreadlocks. Nachdem im Juli in Bern ein Konzert abgebrochen wurde, weil sich Zuschauer:innen an den Frisuren weisser Bandmitglieder gestört hatten, machten ­einige Medien daraus ein diskursives Fünf-Gänge-Menü. Einen ähnlichen Fall gab es im März in Deutschland, als eine weisse Musikerin wegen ihrer Dreadlocks von einer «Fridays for Future»-­Demonstration in Hannover ausgeladen wurde. Auch hier schien es für ein paar Tage kein anderes Thema zu geben, wobei sich vom tiefgründigsten Feuilleton bis zum oberflächlichsten Boulevard alle an der Berichterstattung und der Debatte beteiligten.

Der Grund für diesen narrativen Fressrausch war, dass diese Geschichten ein gesellschaftliches Erregungspotenzial – die Angst vor einer vermeintlichen «Cancel Culture» – erzählerisch anregend illustrieren. Man kann inzwischen darauf wetten, dass solche Fälle viele Klicks und empörte ­Shares erzeugen werden. Wie beim Anekdoten­journalismus aus Brüssel wird auch hier die Nachfrage nach Geschichten befriedigt, die politische Ressentiments bestätigen. Nur dass hier nicht die EU im Mittelpunkt steht, sondern die «politische Korrektheit».

Die Kategorie, die dieses Verhalten legitimieren soll, ist der Nachrichtenwert – ein Konzept, dass in diesem Zusammenhang oft einen quasidemokratischen Anstrich bekommt. Die Leute interessiert das halt, und wer wären wir, wenn wir entscheiden würden, dass es sie nicht zu interessieren hat! Verstärkt wird diese Einstellung durch die Tradition eines professionellen Ethos, das darauf angelegt ist, Dinge aufzudecken und der Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Dagegen erscheint die Vorstellung, bewusst über etwas nicht zu berichten, sofort zwielichtig. Hier schwingt der Vorwurf mit, dass etwas unter den Teppich gekehrt, tot­geschwiegen werde.

Also müssen wir auch

Und noch eine weitere Rechtfertigung kommt ins Spiel. Gerade bei Geschichten wie Heard/Depp oder bei identitätspolitischen Konflikten gibt es inzwischen viel Konkurrenz von nichtetablierten Medien. Dazu gehören Social-­Media-Accounts mit vielen Fol­lower:innen auf Twitter oder Instagram genauso wie erfolgreiche Kom­menta­tor:in­nen auf Youtube oder Tiktok. Diese können die unappetitlichsten Geschichten mit grossem Erfolg erzählen und dabei noch genüsslich darauf hinweisen, dass der mediale «Mainstream» davon ja schweigt.

Dem kann man die zivilisierende Kraft der eigenen journalistischen Professionalität entgegenhalten – im Sinne von: Die anderen werden es eh machen, also müssen wir auch. Am Ende hat man sich trotzdem an einem boulevardesken Theater beteiligt, wie im Fall der Partyvideos der finnischen Premierministerin Sanna Marin. Hier wurde die inszenierte Aufregung über eine nichtige Geschichte durch die Berichterstattung salonfähig gemacht.

Dabei schliesst redaktionelle Verantwortung ja Verzicht immer bereits ein. Denn auch wenn es selten transparent gemacht wird, folgen Medien zwangsläufig Mechanismen des Verzichts: Man kann nie über alles berichten, die Themen und Ereignisse, die am Ende auf den Bildschirmen landen, sind bereits eine sehr kleine Selektion dessen, was jeden Tag auf dem Planeten geschieht. Eine Ethik des Verzichts würde diese Mechanismen nur stärker reflektieren. Diese Reflexion würde auf einer Narratologie verführerischer Geschichten beruhen, also die Frage stellen: Was macht eine Erzählung unwiderstehlich? Ist es das politische Identifikationspotenzial, der Alltagsbezug, die Personalisierung?

Wenn man diese Frage beantwortet hat, kann man entweder einen Weg finden, um diese Geschichten auf eine Art zu erzählen, die sich nicht in das konventionelle ­Erregungspotenzial hineinlehnt. Oder man ­verzichtet.

Johannes Franzen ist Literaturwissenschaftler an der Universität Siegen.