Die Linke: Für eine progressive Unabhängigkeit
In Taiwan prägt eine neue Generation die Linke. Doch ihre fortschrittlichen Anliegen würden dauernd von der Chinafrage überschattet, sagt die Wissenschaftlerin, Schriftstellerin und Aktivistin Liu Wen.
WOZ: Liu Wen, die Ansichten der Menschen in Taiwan, speziell auch der Linken, gehen im geopolitischen Geschepper zwischen China und den USA unter. Wie sehen Sie die geopolitische Konfrontation?
Liu Wen: In allen Umfragen der letzten zehn Jahre gaben mehr als achtzig Prozent der Taiwaner:innen an, dass sie den Status quo beibehalten wollen. Viele von ihnen zögern bei der Erklärung der Unabhängigkeit, weil sie eine chinesische Invasion fürchten. Ihnen steht eine Minderheit gegenüber, die für eine Beschwichtigung Chinas eintritt, weil Taiwan nur so in diesem geopolitischen Wettbewerb überleben könne. Die Aussenpolitik des KMT-Präsidenten Ma Ying-jeou, der von 2008 bis 2016 an der Macht war, beruhte auf dieser Prämisse. Er senkte die Ausgaben von Taiwans Militärhaushalt und verkürzte die Dienstzeit der Wehrpflichtigen. Ma wollte Taiwan zur Provinz machen, damit es sich wie Hongkong in Chinas Vision «Ein Land, zwei Systeme» einfügen könnte.
Was änderte sich mit dem Machtantritt von Tsai Ing-wen von der DPP 2016?
Sie wollte die Politik von Ma wiedergutmachen und die internationalen Beziehungen Taiwans stärken. Sie bezeichnet das Land als «Republik China, Taiwan», um so zwei Kräfte zusammenzuhalten: die Mehrheit, die den Status quo in Form der «Republik China» beibehalten will, und die radikaleren, unabhängigen Kräfte, die das Land nur als «Taiwan» sehen. Es gibt interne Differenzen, aber hinter dem hybriden Namen steht, dass die Ein-China-Ideologie der Volksrepublik China abgelehnt wird.
Für wie real halten Sie die Kriegsgefahr?
Unsere jüngere Generation, die für die Unabhängigkeit eintritt, hat erst in den letzten zwei Jahren begonnen, ernsthaft über die Möglichkeit eines Krieges nachzudenken. Wir erkannten, dass China und die USA in eine neue, an den Kalten Krieg erinnernde Konfrontation verwickelt sind. Sie wird durch die «Wolfsdiplomatie» Pekings und republikanische Falken in Washington angeheizt, die Taiwan drängen, sich für eine Seite zu entscheiden.
Welche unterschiedlichen Positionen gibt es in der taiwanischen Linken dazu?
Die Linke in Taiwan ist schwach. Der Aufstand für Demokratisierung in den achtziger Jahren führte auch zur Gründung der DPP. Linke ausserhalb der Partei sehen diese als ethnonationalistische, antichinesische Kraft, die sich nicht mit der Klassenungleichheit befasst. Unter ihnen gab es in den siebziger und achtziger Jahren politisierte Intellektuelle chinesischer Abstammung, die einem marxistischen Internationalismus anhingen und im Kampf gegen nationale Bourgeoisien auf China setzten.
Welche Position vertreten die Jüngeren?
Die jüngere Generation der Linken, die insbesondere aus der Sonnenblumenbewegung 2014 hervorgegangen ist, gilt gemeinhin lediglich als «chinafeindlich». Radikalere Aktivist:innen sind jedoch auch gegen Neoliberalismus und den Handel mit dem chinesischen Kapitalismus. Sie sehen einen Zusammenhang zwischen Klassenfragen, Freihandel und Unabhängigkeit. Unter dem Eindruck der Bewegungen in Hongkong 2014 und 2019 sowie der Ereignisse in Tibet und Xinjiang wenden sie sich nun auch stärker gegen Autoritarismus. Sie kritisieren das chinesische Regime nicht nur als autoritäre Macht, sondern auch als Vertreterin des globalen Kapitalismus. Taiwanische Unternehmen und Sektoren wurden letztlich schon früh von der Volksrepublik China umworben, nicht nur, um Kapital zu akkumulieren, sondern auch, um auf die Vereinigung Chinas mit Taiwan hinzuwirken.
Wie unterscheidet sich das rechte Verständnis taiwanischer Unabhängigkeit von einer liberalen Auffassung?
Für rechte Vertreter:innen der Unabhängigkeit etablierte die KMT ein Kolonialregime, weil die Leute hinter der Partei chinesischer Abstammung sind. Sie wollen Taiwan als unabhängigen Staat etablieren, in dem die taiwanische Sprache und nicht Chinesisch wieder als Landessprache gilt. Für sie sind die Minnan – also die vor 1949 eingewanderten Chines:innen, die etwa siebzig Prozent der Bevölkerung ausmachen – die rechtmässigen Erben des Landes. Diese Politik ist offensichtlich verfehlt, weil sie Taiwan auf ein ethnisches Paradigma reduziert.
Die meisten Menschen teilen diese Vision glücklicherweise nicht. Die Mehrheit der «Realist:innen» befürwortet den Status quo und hält die Unabhängigkeit Taiwans für eine Tatsache, die keine weiteren Änderungen benötigt. Taiwan hat schliesslich eine Präsidentin, eine Armee und eine eigene Kultur, die sich von der chinesischen unterscheidet. Sie glauben, dass der Status quo als «Republik China» nur formalisiert werden muss.
Wie positioniert sich die Linke?
Ausser der rechten und der liberalen Position gibt es noch eine progressive, die sowohl das Erbe des japanischen Kolonialregimes als auch das der KMT kritisiert. Wenn wir anerkennen, dass Taiwan nicht immer «rechtmässig Han-chinesisch» war, bringt uns das zur Frage, ob Taiwan wirklich ein multiethnisches Land sein will. Wenn die «Republik China» als Struktur beibehalten und lediglich de jure die Unabhängigkeit erklärt wird, löst das keinen der sozialen Widersprüche in Taiwan. Und es ist wichtig zu überdenken, ob Taiwan eine sogenannte «chinesische Demokratie» sein will oder schlicht eine Demokratie mit fortschrittlichen Werten.
Wie kann das erreicht werden?
Es gibt auf jeden Fall noch viel zu tun. In Bezug auf LGBTIQ*-Rechte ist es wichtig, die Vorstellung von der Han-chinesischen, patriarchalen Familie als authentischem Kern der Kultur Taiwans aufzulösen. Das geschieht langsam, insbesondere nach dem Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe von 2019. Die Zusammenarbeit mit indigenen Aktivist:innen, bei der es um indigene Unabhängigkeit geht, muss fortgesetzt werden. All dies kann in eine progressivere Vorstellung taiwanischer Unabhängigkeit münden.
Linke oder soziale Bewegungen aus anderen Ländern solidarisieren sich in der Regel, wenn sie neben dem Kampf um Unabhängigkeit auch ein antikapitalistisches oder sozialrevolutionäres Projekt erkennen, so wie zuletzt in Rojava oder früher in El Salvador. Taiwan scheint nur die erste Bedingung zu erfüllen.
Ja, es sieht so aus, als würde Taiwan ohne ein «vorbildliches» linkes Projekt keine internationale Unterstützung erhalten. Das ist aber schon länger das Problem Taiwans. Wie im Kalten Krieg wurde Taiwan lange als untergeordnete US-Kolonie betrachtet, die gegen das «kommunistische China» steht. Daher zeigten Linke keine Solidarität mit Taiwan. Erst mit der Sonnenblumenbewegung 2014 reifte die Erkenntnis, dass Taiwan vielleicht mehr ist als nur «antikommunistisch». Der jetzige «neue Kalte Krieg» und die seit dem Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, im August 2022 eskalierende Taiwankrise haben diese Erkenntnis jedoch wieder weggespült.
Die Menschen meiner Generation wünschen sich so viel für Taiwan. Gleichzeitig gibt es unterschiedliche Sorgen und Probleme, von der zunehmenden militärischen Bedrohung durch China bis zu internen Streitereien über die Strategie für Unabhängigkeit. Fortschrittliche Anliegen werden von einer Minderheit vertreten und können bei jeder Wahl von der Chinafrage überschattet werden. Dennoch nehmen die Aktivitäten an der Basis von Jahr zu Jahr zu, und eine Vielzahl politischer Spektren ist beteiligt. Darauf kann eine neue Vision aufbauen.
Liu Wen (35) ist taiwanische Wissenschaftlerin, Schriftstellerin und Aktivistin und lebt in Taipeh. Sie forscht als Professorin am Institut für Ethnologie der Academia Sinica und gibt das linke Onlinemedium «New Bloom Magazine» mit heraus.