Im Affekt: Klassenkampf im Prunksaal
Als die schwedische Akademie am 6. Oktober pünktlich um 13 Uhr verkündete, wem sie dieses Jahr den Nobelpreis für Literatur verleihen werde, war ausgerechnet die Preisträgerin noch ganz ahnungslos. «Ich habe heute Morgen gearbeitet, und das Telefon hat die ganze Zeit geklingelt, aber ich bin nicht drangegangen», erzählte Annie Ernaux später. Auch zum Preis selber hatte die 82-Jährige vor kurzem noch eine ihrer perfekt lakonischen Einschätzungen parat: «Wer ihn erhält, bekommt viel Geld und gleichzeitig eine Art Unantastbarkeit. Beides scheint mir ungesund.» Man muss sich um ihre Gesundheit trotzdem keine Sorgen machen: Ernaux wird unbestechlich und uneitel bleiben. Und Unantastbarkeit lässt ihre Literatur sowieso nicht zu.
Seit ihrem Erstling «Les Armoires vides» von 1974 verfolgt die Französin ein einzigartiges Projekt, das gern mit dem Label «Autofiktion» beschrieben wird. Doch geht es in ihren auffallend schmalen Büchern um sehr viel mehr als um das eigene Ich. Mit ihrer über die Jahre immer raffinierteren Schreibtechnik verdichtet sie nicht bloss die eigene proletarische Herkunft und Einschneidendes wie eine Abtreibung oder eine Amour fou, sondern auch Leben und Sterben ihrer Eltern in täuschend einfachen Sätzen. Literatur dient Ernaux als Fluchtweg – und treibt zugleich einen Keil zwischen sie und die Welt ihres Aufwachsens.
Die Klassenfrage kommt heute in den Diversity-Diskussionen oft zu kurz. Bei Ernaux fällt sie uns laut vor die Füsse – ohne dass sie andere Diskriminierungen vergisst. Die kämpferische Linke Annie Ernaux schreibt ungeschönt über eine Herkunft ohne kulturelles, symbolisches, finanzielles Kapital – und über die Unmöglichkeit, diesen Abgrund inmitten der Gesellschaft und des eigenen Ich je ganz zu überwinden. Nun entert diese Zerrissenheit den Prunksaal der befrackten schwedischen Akademie. Darüber darf man sich sehr freuen.
«Wenn ich sie nicht aufschreibe, sind die Dinge nicht zu Ende gebracht, sondern nur gelebt», steht als Motto in ihrem neusten Buch, «Le Jeune Homme».