Im Affekt: Die Möglichkeit des Darüberhinaus

Nr. 42 –

«Wow», sagt Kim de l’Horizon an der Frankfurter Buchmesse, weint dann, singt und schneidet sich die Haare ab in einer Dankesrede, die eher eine Performance ist. Dick aufgetragen, aber gut gemacht – ja, ein bisschen wie der nun mit dem Deutschen Buchpreis geehrte Erstling, «Blutbuch». Ein Roman über Scham, die Familie, über Begehren, Sex, Identität und Herkunft, autofiktional erzählt (siehe WOZ Nr. 38/22).

De l’Horizon suche im Buch nach einer eigenen Sprache, schreibt die Jury in ihrer Begründung, habe damit provoziert und begeistert – und hat, so kann man anfügen, nicht nur eine, sondern viele verschiedene Sprachen gefunden, um das Gefühl der Uneindeutigkeit zu beschreiben. Vielfältige Ausdrucksweisen für das Ringen und Stolpern einer sich als nonbinär verstehenden Person, die sich lange in der Welt nicht wiederfindet, deren Körper nicht vorgesehen ist. Ein widerspenstiger Roman und absolut preiswürdig.

Die Vergabe ist auch daher toll, weil nun eine breite Öffentlichkeit mit dieser Lebensrealität in Berührung kommt. Die meisten Medien haben nach der Bekanntgabe bei der Deutschen Presseagentur abgeschrieben, nach der sich de l’Horizon «weder eindeutig als Mann noch als Frau» sehe oder, andere Formulierung: zwischen den Geschlechtern stehe. Die Möglichkeit eines Darüberhinaus? Scheint noch nicht so recht angekommen zu sein. Aber hey, immerhin mussten sich ein paar Journalist:innen der Hausaufgabe stellen, einen Text ohne Pronomen zu verfassen (nur die NZZ machte wieder auf ewig abgehängt und bezeichnete de l’Horizon kürzlich konsequent als «er»).

Sprache ändert sich, und dieser Prozess, so beweist Kim de l’Horizon, kann wild sein, lustig, dilettantisch und poetisch – es ist eben eine Suche. Der Preis für «Blutbuch» ist also auch politisch zu verstehen: als Zeichen dafür, dass queere Identitäten ganz selbstverständlich Teil der Gesellschaft sind.

Wie die Mutter in «Blutbuch» schreibt: «Ich habe mein d’accord gegeben, dich zu lieben, du müffeliger Herdapfel von einem Planet. Aber weisst du eigentlich, wie gnietig das ist?»