Im Affekt: Woah Bro, voll guet!

Nr. 43 –

Die junge Frau im Zugabteil nebenan – höchstens fünfzehn, stark geschminkt – schwenkt das Handy in Selfiestellung um ihren Kopf und jault ein paar Takte in die Kamera, schaut auf den Bildschirm: «Woah Bro, ich sing voll guet!» Der Kommentar richtet sich nicht an einen Brother, sondern an ihre Begleiterinnen, doch die sind in ihre eigenen Geräte vertieft. «Bro, findsch en attraktiv?» Sie scheint auch kein Gespräch zu suchen, spricht trotzdem fast ohne Unterbruch. Ihre Sätze sind getaktet wie das Zappen durch einen Feed, wirken abgehackt, beim selben Thema verweilt sie höchstens ein paar Sekunden. «Egal mit welere Haarfarb, ich gseh immer us wie vierzäh.» Oft ist schwer auszumachen, ob sie gerade ein Video oder einen Kommentar darunter kommentiert, zitiert, selber ein Video aufnimmt oder mehrere Dinge gleichzeitig. Die Ebenen und Reflexionen überschlagen sich – was für ein Schauspiel!

Junge Erwachsene im Alter zwischen 19 und 24 Jahren konsumieren nur noch sieben Minuten pro Tag Nachrichten, das hat das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) der Uni Zürich herausgefunden und diese Woche im «Jahrbuch Qualität der Medien 2022» publiziert. Tendenz: sinkend. Diagnose: schlecht für die Demokratie.

Ob sich die junge Frau im Zugabteil für Nachrichten interessiert? Man stelle sich einmal vor, ihre rezeptive Virtuosität würde sich auf die Verfolgung der Weltlage richten, auf Börsenkurse und Umweltdaten, Protokolle internationaler Organisationen und demografische Statistiken, sie würde hin und her springen zwischen thematischen und medialen Ebenen und verschiedensten Verbindungen gleichzeitig folgen – wäre das nicht ein Bewusstseinszustand, wie er für die Erfassung unserer sogenannt komplexen Gegenwart nötig wäre? Und wie erst müsste ein Newsfeed aussehen, damit er ihrem Takt und ihrer synergetischen Aufnahmefähigkeit gerecht würde?

Tipp für die Digitalstrategie von Medienkonzernen: mehr Science-Fiction, weniger AI-gestützte Entlassungsprogramme.