Tiere im Kino: Odyssee mit Grautier

Nr. 51 –

Tierfilme zählen fast immer auf unser Mitgefühl – und auf unsere Fähigkeit, Tiere zu vermenschlichen. Wie es anders geht, zeigt Jerzy Skolimowski mit seinem ganz erstaunlichen Eselfilm «EO».

Filmstill aus dem Film «EO»: Ein Esel steht auf einer Steinbrücke vor einem Stauwerk
Eigenwillige Perspektiven: Der Esel als Ornament in der Landschaft. Still: Frenetic

«EO» ist zuerst ein Geräusch. Als Jerzy Skolimowski im vergangenen Mai am Filmfestival von Cannes den Jurypreis entgegennahm, dankte er ausführlich und namentlich allen sechs Eseln aus seinem Film – zwei aus Polen, zwei aus Sardinien, zwei aus dem Latium – und stimmte zum Abschluss ein melodisches «EO» an, das polnische «Iah». Das Galapublikum in Cannes reagierte auf die ungewöhnliche Dankesrede des 84-Jährigen wie auf eine Comedynummer – und verkannte damit, wie ernst es dem polnischen Regieveteranen bei seinem gleichsam zirzensischen Auftritt doch auch war.

Nichts, was dem Esel zustösst, erscheint vorhersehbar.

Die sechs Esel spielen ein und denselben Helden, und mit der Aufzählung ihrer Namen wies Skolimowski noch einmal darauf hin, dass sein Film eben keine Dokumentation ist, sondern Fiktion. «EO» beginnt mit einer traumartigen Sequenz, ganz in rotes Licht getaucht: Wir sehen den kleinen Esel in der Zirkusarena bei einer Art Ausdruckstanz mit der Dompteuse Kassandra (Sandra Drzymalska). Sichtbar wird hier eine gegenseitige Zuneigung zwischen Tier und Mensch, die fast schon erotische Züge trägt. Aber dann wird es Tag, und aus Dialogfetzen und Konfliktszenen wird deutlich, dass der Zirkus erstens kurz vor der Pleite steht und zweitens wegen seiner Tierhaltung von einer Gruppe von Tierschützer:innen heftig angegriffen wird. Es folgt die Auflösung – und für den Esel die Trennung von Kassandra. Eine Odyssee beginnt, die das Tier zuerst durch verschiedene Landesteile Polens und dann bis nach Italien führt – eine Odyssee, bei der der Esel kaum je sein eigener Herr ist, sondern immer einem sehr wechselhaften Schicksal ausgesetzt bleibt.

Von Konventionen des Tierfilms setzt sich Skolimowski dabei gleich nach zwei Seiten ab. Auf der einen Seite stehen Dokumentarfilme wie Wiktor Kossakowskis «Gunda» (2020), Andrea Arnolds «Cow» (2021) oder auch Nicolas Philiberts «Nénette» (2010), die darum bemüht sind, reale Tiere als Individuen zu sehen und dementsprechend zu inszenieren. Auf der anderen die unzähligen Spielfilme mit tierischen Sidekicks wie dem hilfreichen Collie Lassie, dem schlauen Delfin Flipper, dem süssen Schweinchen Babe und weiteren Hunden, Äffchen oder gar Löwen, die dem menschlichen Drama um sie herum mal humoristische, mal anrührende Anstösse geben.

Ungefähr und unfassbar

Obwohl sie einander scheinbar diametral gegenüberstehen, arbeiten beide Seiten mit einem Grundbedürfnis des Menschen, das zugleich sein Talent ist: der Einfühlung. «Flipper», «Fury», «Lassie» und Konsorten machen schamlos davon Gebrauch, indem sie den Tieren menschliches Verhalten und gar eine menschliche Psyche andichten. Dokumentarische Formen wie «Gunda», «Cow» oder «Nénette» erzeugen letztlich einen verblüffend ähnlichen Effekt, indem sie den Menschen absichtlich ausblenden. Wenn etwa das Schwein Gunda am Ende des gleichnamigen Films unter klagendem Grunzen in allen Ecken des Stalls nach ihren Ferkeln sucht, die eine unsichtbar bleibende Menschenhand gerade wegtransportiert hat, empfindet man fast unweigerlich die Sehnsucht einer Mutter nach ihren Kindern. Wenn Andrea Arnold in der Langzeitbeobachtung «Cow» ihre Protagonistin, die Milchkuh Luma, nach einem langen Winter im Stall nur mit Trockennahrung endlich im Frühjahr auf der Wiese zeigt, wie sie in der Abenddämmerung gemütlich das frische grüne Gras malmt, ist man geneigt, Genuss und Lebensfreude bei der eigentlich ausdruckslosen Heldin zu erkennen. Und von den Blicken, die Nicolas Philibert von der im Pariser Jardin des Plantes eingesperrten Orang-Utan-Frau Nénette einfängt, fühlt man sich wie von einer strengen Gesprächspartnerin nachhaltig infrage gestellt.

An diese Effekte der Identifikation mit der Kreatur ist man schon so sehr gewöhnt, dass es irritiert, wie wenig Skolimowski in «EO» davon Gebrauch macht. Die durchs Rotlicht unterfütterte Suggestion von Zuneigung zur schönen Dompteuse Kassandra bildet zwar den Anfang, verblasst dann aber wie eine ferne Erinnerung. Skolimowski und sein Kameramann Michał Dymek schaffen zwar immer wieder die Illusion einer subjektiven Perspektive für den Esel, aber nur selten lässt sich daraus wirklich eine Interpretation der Ereignisse aus der Sicht des Tieres ableiten. Als es den Esel neben lauter nervöse Hochleistungspferde in einen Reitstall verschlägt, der mit grossem Pomp feierlich eröffnet wird, liegt eine Ahnung von Konkurrenz und Verstimmung in der Luft, die dann doch keinen echten Plot ergibt. Dieses Element des Ungefähren, des Unfassbaren steigert aber auch die Spannung des Films, in dem der Esel zum anonymen Protagonisten eines Fluchtthrillers wird. Nichts, was ihm zustösst, erscheint vorhersehbar.

Das grosse Vorbild für «EO», von Skolimowski selbst auch benannt, ist Robert Bressons «Au hasard Balthazar» (1966), zu dem es einige thematische Verweise gibt: etwa den Zirkus, die Zuneigung zu einem Mädchen oder den Reigen der Ausbeutung, die das Tier erfährt. Bressons Film wird oft als «Geschichte eines Esels» beschrieben. Dabei ist der Esel Balthazar in Wahrheit weniger eine für sich stehende Figur als ein Instrument der Montage, das die disparaten Teile der Geschichte um Marie, ihren Vater, ihren Jugendfreund und ihre schicksalhafte Liebe zu einem «Bad Boy» verbindet. Die grosse Kunst Bressons liegt darin, wie er die Emotionalität, die Balthazars Auftauchen auslöst, seinem minimalistischen Realismus zugutekommen lässt. Man verspürt Mitleid mit dem zusehends geschundenen Esel, nicht so sehr mit der in einer toxischen Beziehung steckenden jungen Frau, deren Schicksal in sachlicher Nüchternheit gezeigt wird.

Skolimowski setzt seinen Esel anders ein. Ja, auch in «EO» muss der Titelheld einiges ertragen, wird Zeuge von Schandtaten und wird selbst geschunden. Aber immer wieder setzt Skolimowski den Esel in Pose vor einer ausdrucksvollen Landschaft, die von einer übergriffigen Moderne wie ausgenutzt erscheint. In einer der schönsten Aufnahmen, auf einer alten Steinbrücke vor einer Staumauer, verschwindet der Esel fast ins Ornamentale. All diese eigenwilligen Perspektiven, die abrupten Szenenwechsel und die Erzählweise, die auf das Prinzip der Identifikation fast ganz verzichtet, lassen einen staunen darüber, dass der Film sein Publikum gleichzeitig so mitreisst. «EO» ist das Werk eines spürbar unabhängigen Geistes, eines Altmeisters, der nichts mehr beweisen muss und sich alle Freiheiten nimmt.

Trotz gegen die gewaltvolle Welt

In der verstörendsten und auf verquere Weise vielleicht unterhaltsamsten Sequenz verläuft sich der Esel an ein Fussballspiel. Der Leibesfülle einiger Spieler auf dem Platz nach zu schliessen, handelt es sich um Amateurmannschaften, die ihre Konkurrenz mit einer Bitterkeit austragen, wie man sie besonders auf dem Land kennt. Durch sein zufälliges Auftauchen wird der Esel an diesem Nachmittag zum viel umarmten Maskottchen der Sieger, am Abend sieht man ihn friedlich vor der Vereinskneipe grasen, in der laut gefeiert wird. Dann fahren die Verlierer auf, nun ausgerüstet mit Baseballschlägern, und schlagen die Kneipe kaputt, treiben die Leute in die Flucht – und stürzen sich dann in Ermangelung weiterer Ziele auf den Esel.

Obwohl auch das wieder in scheinbar subjektiver Eselsperspektive eingefangen wird, bis hin zu den Schlägen, geht es hier nicht einfach darum, uns betroffen zu machen. Die Anwesenheit des Esels und sein Leiden sind bei Skolimowski nur bedingt ein Mittel, um unsere Einfühlung einzufordern. Was der Esel bei ihm verkörpert, ist einfacher und zugleich fundamentaler: Es ist das prinzipielle, trotzige Unverständnis gegenüber einer Welt, in der so viel Gewalt und Unrecht herrscht.

«EO». Regie: Jerzy Skolimowski. Polen/Italien 2022. Jetzt im Kino.