Filmfestival Locarno: Heimatfilme im Haifischbecken
Neuer Publikumsrekord, volle Piazza Grande, ein netter kollabierter Festivaldirektor: Locarno 2006 wird nicht nur wegen der Filme in Erinnerung bleiben.
«Frédéric Maire hat vielleicht etwas unterschätzt, was es heisst, ein solches Festival zu leiten.» Man glaubte nicht richtig zu hören, was Festivalpräsident Marco Solari an der Schlusspressekonferenz vergangenen Samstag im Locarneser Palazzo Morettini vor versammelten MedienvertreterInnen sagte. Vor der Bekanntgabe der Juryentscheide ging Solari kurz auf den Gesundheitszustand des tags zuvor vor 8000 PiazzabesucherInnen auf offener Bühne zusammengebrochenen neuen künstlerischen Leiters des Filmfestivals ein und übermittelte seine Genesungswünsche.
Nein, jene Formulierung sei überhaupt keine Kritik an der gewaltigen Leistung von Frédéric Maire gewesen, erklärte Solari gegenüber der WOZ. Im Gegenteil: Ihm sei es darum gegangen, klarzumachen, wie sehr Frédéric Maire wirklich alles und damit eben vielleicht zu viel gegeben habe, um diese 59. Ausgabe des Festivals von Locarno zu einem Erfolg werden zu lassen. Marco Solari verwahrt sich gegen Vermutungen, in irgendeiner Weise am Stuhl des 44-jährigen Neuenburgers sägen zu wollen. Maire ist seit langem der erste künstlerische Leiter, der nicht von aussen, sondern direkt aus dem innersten Apparat des Festivals stammt und es damit wohl so gut kennt wie kaum einE DirektorIn vor ihm.
In den letzten Tagen des Festivals und noch vor seinem Zusammenbruch hatten sich allerdings kritische, schon in Richtung eines Bashing tendierende Stimmen bedrohlich gemehrt. Dem sympathischen Maire - seine Schwäche ist allenfalls, dass er es gerne allen recht machen und nirgends anecken will - wurden schwere Kommunikationsfehler vorgeworfen. Da war zuerst die Geschichte mit der weitgehend unterdrückten Erklärung von Filmschaffenden zum Libanon-Krieg, wo er die grosse Politik vom Festival fernhalten wollte (siehe WOZ Nr. 32/06). Am Tag darauf folgte der Eklat um das Jurymitglied Barbara Albert. Die österreichische Regisseurin, Produzentin und Drehbuchautorin hatte an der Ausarbeitung der Story des Wettbewerbsfilms «Das Fräulein» der Schweizer Regisseurin Andrea Staka mitgewirkt (der dann prompt und nicht unverdient den Goldenen Leoparden erhielt). Alberts Verschweigen ihrer Mitarbeit bis kurz vor Festivalbeginn wurde mit Maires Einverständnis gedeckt und ein Stillschweigen nach aussen sowie eine allfällige Stimmenthaltung von Albert bei Stakas Film vereinbart. Das war zwar kein glückliches Agieren, doch man erinnert sich, dass sich in der ersten Festivalausgabe von Maires Vorgängerin Irene Bignardi im Jahr 2001 die internationale Jury derart verkracht hatte, dass zum Festivalende kurzerhand die Hälfte der JurorInnen davonlief, ohne dass damals ein grosser Aufschrei in den tonangebenden Medien folgte.
Ein Anlass wie Locarno ist ein Haifischbecken, und Gelegenheit zu Kritik lässt sich stets finden. Zu erwähnen wäre etwa beim viel beachteten Programm auf der Piazza Grande das Revival des Schweizer Heimatfilms aus einheimi-scher und fremder Optik («Herbstzeitlosen» und «Un Franco, 14 Pesetas») oder auch die schiere Heiligsprechung einer Figur wie Carla del Ponte im Dokumentarfilm «La liste de Carla», wo man nur den Kopf darüber schütteln konnte, wie schnell jeglicher kritische Verstand ausgeschaltet werden kann. Ausserdem gab es in beiden Wettbewerben, der Compétition officielle wie auch in der Compétition Cinéastes du Présent, einige schlicht katastrophale Beiträge. Doch all diese Missgriffe waren schnell vergessen mit einem stimmungsvollen Abschluss auf der Piazza Grande, als nach der Weltpremiere des bewegenden Dokumentarfilms «L’Orchestra di Piazza Vittorio» des Italieners Agostino Ferrente die Musiker der - aus Angehörigen von fünfzehn Nationen bestehenden - Formation ihr erstaunlich klischeefreies Worldmusic-Crossover live aufspielten und weit nach Mitternacht die 5000 verbliebenen BesucherInnen zum Tanzen brachten - ein Novum in der Festivalgeschichte.
Weiter hat die Festivalleitung mit der Präsentation des Werkes von Aki Kaurismäki wohl eine der besten Retrospektiven ausgewählt, die seit langem in Locarno zu sehen waren. Ergänzt wurden die Filme des Finnen durch eine zwanzig Filme umfassende Carte blanche für Kaurismäki, in deren Rahmen eine grosse Fülle von zum Teil wenig bekannten Meisterwerken der Filmgeschichte präsentiert wurden, etwa Luis Buñuels «Las Hurdes», Vittorio de Sicas «Umberto D.» oder Robert Bressons «Au Hasard Balthazar». Dass Aki Kaurismäki grummelnd und unwillig den Ehrenleoparden des Festivals entgegennahm, am folgenden Vormittag dann aber während fast zwei Stunden geduldig, umgänglich und freundlich ein Podium mit reger Publikumsbeteiligung bestritt, darf durchaus als Glanzleistung der Festivalleitung bezeichnet werden. Der für seine Alkoholexzesse berüchtigte Regisseur gab mit seinen so lakonischen wie gezielt ausweichenden Antworten immer wieder Anlass zu Begeisterungsstürmen. «Verstehen Sie Sarkasmus und Zynismus in Ihren Filmen eher als Angriff oder eher als Verteidigung?» - «Als Verteidigung, denn wer ist zynischer: ich oder Condoleezza Rice?» Es ist eben nicht ganz einfach, die Politik bei einem Festival von der Grösse Locarnos aussen vor zu halten.