Kriegsgeplagtes Armenien: Die Angst im Kurort

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Zu Sowjetzeiten war Dschermuk ein beliebter Urlaubsort. Doch seit Aserbaidschan letzten Herbst Armenien angriff, bleiben die Wellnesstempel und Hotelanlagen leer. Im benachbarten Karabach droht derweil eine humanitäre Katastrophe.

Sanatorium Gladzor
Das ehemalige sowjetische Sanatorium Gladzor. Foto: Patrick Slesonia


Reisepass, Bargeld – Kristina Iwanjan stopft beides in einen Rucksack, zieht eine dicke Jacke über ihren Schlafanzug und rennt los. Es ist kurz nach Mitternacht, und der Himmel über Dschermuk dröhnt. Auf der Strasse, so erinnert sich Iwanjan später, seien ihr Menschen begegnet, die glaubten, die grellen Lichter in den Wäldern seien ein Feuerwerk. Ein Fest vielleicht zu Ehren des südarmenischen Kurorts, in dem an jenem 13. September 2022 nach zwei Jahren Coronapandemie wieder Hochsaison herrscht. Auch das Olympia-Sanatorium, ein mausgrauer Koloss mit 52 Zimmern, in dem Iwanjan als Managerin arbeitet, ist damals voll belegt.

Als sie im «Olympia» eingetroffen sei, habe das Personal die Gäste bereits die Treppen hinunterdirigiert, berichtet Iwanjan. Tagsüber hatten sich die Besucher:innen in den unterirdischen Behandlungsräumen noch mit ätherischen Ölen verwöhnen lassen. Nun dient das dicke Kellergemäuer als Bunker, die Massagesessel und Sofas werden zu Feldbetten umfunktioniert. Bald sei ihr klar geworden, was sie längst vermutet gehabt habe, sagt Iwanjan: Aserbaidschan greift – nach jahrzehntelangen Kämpfen um die Region Bergkarabach – armenisches Staatsgebiet an. Auch andere Regionen im Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan stehen grossflächig unter Beschuss. Ein Novum im Konflikt der beiden Länder.

Bild von Kristina Iwanjan, Managerin des Olympia-Sanatoriums
Kristina Iwanjan, Managerin des Olympia-Sanatoriums.

Drei Monate später, im Dezember 2022, erzählt Iwanjan in der leeren Hotelbar des «Olympia» von jener Nacht: «Viele Gäste haben mich gebeten, sie direkt zu evakuieren», sagt sie. Doch das sei zu gefährlich gewesen. Die ganze Nacht hätten Personal und Besucher:innen im Keller ausgeharrt und erst am Morgen die Stadt verlassen können. Nach zwei Tagen Eskalation schwiegen die Waffen. Rund 300 Menschen starben entlang der Grenze, der Grossteil Soldaten.

Klobige Sowjetromantik

Seither ist das Leben in Dschermuk ein anderes. Die meisten der etwa 6000 Bewohner:innen sind zwar zurückgekehrt, die gröbsten Schäden beseitigt und viele Wellnesstempel wie das «Olympia» längst wieder geöffnet. Doch was dem Ort fehlt, sind Tourist:innen, die in Frotteeschlappen schlüpfen. Und das Urvertrauen in die Berge, in denen noch immer aserbaidschanische Truppen verschanzt sein sollen.

Dabei ist es die Natur, die Dschermuk über Armenien hinaus bekannt gemacht hat. Rings um die Stadt entspringen natürliche Mineralquellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie wirtschaftlich erschlossen und eine Fabrik für Mineralwasser gebaut, die immer weiter expandierte. Heute gibt es die Flaschen in Armenien an jedem Strassenkiosk zu kaufen. Hauptabnehmer im Export sind Russland und die USA, wo die beiden grössten Diasporacommunitys leben. Auch die ersten Hotels und Sanatorien entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts. So wurde Dschermuk zu Sowjetzeiten ein beliebter Urlaubsort.

Wer heute durch die Stadt spaziert, findet sie überall, die klobige Sowjetromantik. Und was davon übrig ist. Das alte Kulturzentrum inmitten der Stadt etwa, in dem die letzten verbliebenen Büsten armenischer Künstler und Schriftstellerinnen erst kürzlich aus der Wand geschlagen wurden. Die Ruine war dank des Internets zuletzt zu einem bei Fotograf:innen beliebten «lost place» geworden.

Im Rathaus erinnern Schwarzweissfotografien daran, dass Dschermuks Glanzzeiten schon lange vor den Septemberangriffen vorbei waren. Nach den von Armut und Ungewissheit geprägten neunziger Jahren brachte die Privatisierungswelle um die Jahrtausendwende zwar etwas Aufschwung. Doch an die alten Tage konnte Dschermuk nicht anknüpfen. Mitte September hätten die Spas und Hotels tausend Tourist:innen aus zwanzig Nationen beherbergt, erzählt Wardan Sargsyan, Dschermuks stellvertretender Bürgermeister, in seinem Büro. Der ausgebildete Arzt half während der Angriffe im Spital aus. Nun haben grössere Anlagen wie das «Olympia» gerade einmal fünfzehn bis zwanzig Prozent Auslastung, kleinere Hotels oft gar keine Gäste.

«Nach der Aggression fing Aserbaidschan an, seine Stellungen auf unserem souveränen Territorium zu erweitern», sagt Sargsyan. Neue Posten, Strassen, Truppen – sie seien nur noch vier bis fünf Kilometer vom Ortskern entfernt. Momentan ist es weitestgehend ruhig in der Stadt. Aber Sargsyan ist sich sicher: «Aserbaidschan hat noch ganz andere Pläne für die Zukunft.» Kommentieren will das aserbaidschanische Verteidigungsministerium all das nicht. Eine Anfrage der WOZ bleibt trotz Nachfrage unbeantwortet.

Militärische Überlegenheit

Von der internationalen Gemeinschaft fühlen sich viele in Dschermuk alleingelassen. So wie schon im Herbst 2020. Damals, als die Welt in ihren ersten Coronaherbst steuerte, brach in der nahen Region Bergkarabach ein neuer Krieg aus. Der Konflikt um die Region, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan zählt, reicht Jahrzehnte zurück. Er eskalierte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und einem ersten Krieg, der bis 1994 andauerte. Seither lebt die ethnisch mehrheitlich armenische Bevölkerung in einem De-facto-Staat, der sich «Republik Arzach» nennt und von Armenien unterstützt wird.

Während des sechswöchigen Krieges 2020 mit mehr als 6500 Toten eroberte Aserbaidschan grosse Teile Bergkarabachs zurück. Im von Russland vermittelten Waffenstillstand bekam es darüber hinaus Gebiete um Karabach zugesprochen, die bis dahin unter armenischer Kontrolle gestanden hatten. Viele Armenier:innen waren wütend auf ihren Präsidenten Nikol Paschinjan, der den Bedingungen zustimmte – und sind es bis heute. Zwei Jahre später, bei den Angriffen im September, war Armeniens Schutzmacht Russland mit ihrem eigenen Angriffskrieg in der Ukraine beschäftigt.

«Die Angriffe sind eine weitere Zäsur, weil Aserbaidschan jetzt auch die nationalen Grenzen Armeniens nicht anerkennt und infrage stellt», sagt Stefan Meister von der Denkfabrik Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Aserbaidschan habe seine militärische Überlegenheit ausgenutzt, um Druck auszuüben – etwa im Blick auf eine direkte Verbindung zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan, die über armenisches Staatsgebiet führen soll. Die Reaktivierung alter Verkehrswege war Teil der Waffenstillstandsverhandlungen von 2020. Mit einer solchen Verbindung hätte Aserbaidschan einen direkten Landzugang zum Verbündeten Türkei.

Ganz unbeachtet bleiben die Angriffe im September nicht. «Letztendlich waren es die USA, die durch Anrufe in Baku und wohl auch in Ankara den Waffenstillstand geschaffen haben», sagt Experte Meister. Zu sehr einmischen wolle sich Washington in den Konflikt allerdings nicht und schicke stattdessen lieber die EU vor.

In Dschermuk ist Brüssel im Dezember 2022 trotz mehr als 4000 Kilometern Entfernung ganz nah: als Gast im «Grand Resort». Vor dem grössten Hotelkomplex der Stadt aus pinkem Tuffstein stehen Toyota-Jeeps mit blau-gelben Flaggen – Dienstwagen der zivilen Beobachter:innen, von denen die EU nach den Septemberangriffen insgesamt vierzig in den Kaukasus geschickt hat. Sie sollen sich von der Lage an der Grenze ein Bild machen, darauf hatten sich Armeniens Präsident Paschinjan und Aserbaidschans Machthaber İlham Alijew verständigt. Auf die Grenzseite des «vertrauensvollen Partners» – wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Baku angesichts eines zuvor geschlossenen Gasdeals bezeichnete – dürfen die Beobachter:innen nicht.

Stattdessen dreht die kleine Delegation in Dschermuk morgens nach dem Frühstück ihre erste Runde, sitzt abends beim Buffet mit ein paar Gläsern Wein beisammen. Neben den WOZ-Reporter:innen, einer Familie aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und ein paar russischen Gästen an den Nebentischen stellen die Beobachter:innen die Mehrzahl der Gäste im Resort. Heute bekommen sie Besuch von zwei armenischen Soldaten, die Mission wurde nach zwei Monaten für beendet erklärt, die Beobachter:innen können heimreisen. Zum Abschied schenken die Uniformierten den Gesandten aus Brüssel kleine Holzkreuze. «Damit ihr sie anseht und an uns denkt», sagen sie.

Drohende Katastrophe

Mit der Presse dürfen die Beobachter:innen nicht sprechen. Auch ihre Abschlussberichte sind nur für das Hauptquartier in Brüssel bestimmt, wie ein EU-Pressesprecher schriftlich mitteilt. In Dschermuk sind die Menschen bestürzt, als sie von der Abreise ihrer hohen Gäste erfahren. In ihrem Beisein wähnten sie sich zumindest ein wenig in Sicherheit.

Auch kommt der Abzug zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Der einzige Zufahrtsweg nach Karabach, der Latschin-Korridor, wird von aserbaidschanischer Seite blockiert. Eigentlich sollten ihn russische Friedenstruppen nach dem Waffenstillstand von 2020 schützen. Die 120 000 Bewohner:innen sind seither vom Rest der Welt weitestgehend abgeschnitten. Und damit von Lebensmitteln und Medikamenten, die sie gewöhnlich aus Armenien beziehen. Es droht eine humanitäre Katastrophe.

Im Dezember ist der Beginn der Blockade auch Gesprächsthema in Dschermuks neuem Jugendzentrum. Es liegt auf der anderen Seite des Flusses, der die Stadt zweiteilt, fernab von den Resorts und inmitten von Wohnblocks, vor deren Eingängen mit Wäsche behangene Leinen gespannt sind. Seit zwei Wochen vertreibt sich Narek Azatyan im Zentrum die Zeit. Im Tourismussektor wolle er nach der Schule nicht arbeiten, sagt der Siebzehnjährige. Lieber im IT-Bereich, wie viele junge Menschen in Armenien.

Hippe Start-ups, wie es sie in der Hauptstadt Jerewan gibt, sucht man in Dschermuk allerdings vergebens. Auch zum Studieren müsste Azatyan die Stadt verlassen. Er wolle wiederkommen, sagt er. Das hier sei sein Zuhause. Spätestens nach der Ausbildung wolle er seinen Wehrdienst antreten, der in Armenien für junge Männer obligatorisch ist. Ob er denn keine Angst habe, jetzt nach den Angriffen, vorm Krieg? «Nein», sagt Azatyan, ohne zu überlegen. Was Krieg heisse, das habe er doch schon im September gelernt.