Essay: Ein blöder Felsen im Strudel der eigenen Scheisse

Nr. 5 –

Die schottische Autorin A. L. Kennedy erklärt uns in einer wilden Wutrede den Untergang Grossbritanniens.

Die ehemalige Premierministerin Liz Truss, der Labour-Vorsitzende Keir Starmer, der ehemalige Premierminister Boris Johnson, Premierminister Rishi Sunak und die ehemalige Premierministerin Theresa May während des Gedenkgottesdienstes am Cenotaph in London.
Vier Premierminister:innen in weniger als sieben Jahren: So war das wohl nicht gemeint mit der Meritokratie. Foto: Aaron Chown, Getty

Wie soll ich einem Land mit einem starken Finanzsektor, das erfolgreich ausserhalb der EU agiert, einem Land, das jeglicher Art von Spion:innen Unterschlupf gewährt und trotzdem noch nicht durch Geld, Lügen, Gesetzlosigkeit und Verrat zerstört wurde, erklären, wie wir hier gelandet sind? Es gab eine Zeit, in der es fast so aussah, als wären wir wie du, liebe Schweiz. Der Schein trog.

Es ist schon schwierig zu erklären, was hier bedeutet, ganz zu schweigen vom wie. Die Geschichte unseres Abstiegs ist lang, voller Hass auf alles Britische und mit einer noch viel grundsätzlicheren Verachtung der Menschheit und des Lebens. Herbeigeführt wurde unser Untergang von Gangstern, skrupellosen Financiers, ausländischen Vermögenswerten und jener Sorte verkorkster Erwachsener, die entstehen, wenn man die Kinder der Privilegierten lange genug traumatisiert. Gib ihnen Tradition und Vaterland statt Liebe, Internate und Kindermädchen statt Eltern, Transaktionen und Scharmützel statt Freundschaften, und sie werden, wenn sie an die Macht kommen, alles niederbrennen. Fügt man noch ein paar geborene Soziopath:innen hinzu, lässt sich der Niedergang eines Landes – wie sich herausstellt – leicht bewerkstelligen, tief in jenen unterirdischen Gefilden, wo Kapital und Herrschaft auf Spionage treffen und sich Insiderhandel mit Sabotage vermischt.

Mühsames Dingsbums

In den Monaten bis zum 23. Juni 2016 nutzte die von Unternehmen wie Cambridge Analytica perfektionierte Onlinekriegsführung Daten von psychopathischen Plattformen wie Facebook, um ganze Bevölkerungsgruppen ins Visier zu nehmen. Erst wurde mit der Zerschmetterung von Nationen der «Dritten Welt» geprahlt. Doch nun war es an der Zeit, eine «entwickelte» Nation zu spalten, mit gezielten Angriffen, in denen die Propagandatricks des KGB und der Nazis perfektioniert wurden. Unter dem Druck des Internets änderte sich die dominierende Wahrnehmung der EU in Grossbritannien von ein mühsames ausländisches Dingsbums zu ein brandaktuelles Problem. Da Premierminister David Cameron die Stabilität seiner Partei wichtiger war als die seines Landes, liess er das Referendum über den EU-Austritt zu. Ein Drittel von uns ist nicht einmal zur Abstimmung gegangen. Die Brexiteers hingegen schon. Es war die Generalprobe für Donald Trumps Aufstieg zum Präsidenten, in den viele derselben Gesichter und Philosophien involviert waren.

Aus 37 Prozent unserer Wähler:innenschaft wurde «der Wille des Volkes», und das bekannte Ergebnis von 48 zu 52 wurde aggressiv vermarktet – «derjenigen, die abgestimmt haben» verschwand im Kleingedruckten. Der Brexit hatte nie eine Mehrheit und verliert täglich an Zustimmung, doch jetzt ist es zu spät. Faschisten und Konzerne, die jegliche Regulierung verhindern wollen, Christofaschisten, Katastrophenkapitalisten und den Geldwaschsalon von Londongrad liebende Oligarchen haben sich mit Putins Helferlein verbündet, um ein weiteres Häkchen auf Stalins Wunschzettel zu setzen – dort wo Уничтожить Британию steht – Grossbritannien zerstören. Hinter dem Brexit stecken die schmutzigsten aller schmutzigen Gelder. Wenn die Ukraine zeigt, dass Russland mit konventionellen Kriegen Schwierigkeiten hat, zeigt Grossbritannien, wie Onlinesiege ganze Nationen zerstören können.

A. L. Kennedy
A. L. Kennedy

Nun zum … hier. Westminster lügt unentwegt, um zu verhindern, als Hauptverursacher unserer Misere identifiziert zu werden. Diese Lügen werden von einer willfährigen Presse weiterverbreitet, die von staatlichen Zuschüssen abhängig ist, wöchentlich Leser:innen verliert und – wenn es sich um den offenbar unsterblichen Kobold Rupert Murdoch handelt – abhängig von Rubeln ist. Es gibt niemanden mehr mit Einfluss, der nicht hüfttief im Kompromat steckt und in einem Teufelskreis gegenseitiger Erpressungen schwitzt. Verbrechen erzeugen noch mehr Verbrechen, wie Kröten auf Crack.

Hier wird unsere Post vielleicht nie zugestellt, und wir kaufen Dinge von Firmen, die pleite sind, bevor unsere Bestellungen verschickt werden. Unsere Kranken sterben zu Hause, auf der Strasse, in im Stau steckenden Ambulanzen, auf Bahren in den Gängen der Spitäler. Der öffentliche Verkehr wird, wenn nicht gerade gestreikt wird, durch Selbstmorde lahmgelegt. Ist Ihnen kalt? Unsere Wohnungen sind unglaublich mies isoliert, und unsere politisierte Polizei ist besonders effizient darin, Demonstrant:innen zu verhaften, die es wagen, auf diesen Missstand hinzuweisen. Dafür sind unsere Stromtarife die höchsten der Welt. Die Königsfamilie, einst ein wirksames Opiat für unsere Massen, ist heute zerstrittener und offen toxischer denn je. Unsere enorm reichen und enorm gierigen Volksvertreter:innen gleichen immer mehr den Borgias – Borgias allerdings mit schweren Kopfverletzungen und keinerlei Interesse an Kunst.

Hier sind wir zunehmend nicht nur arm, sondern bettelarm. Unser Sozialversicherungssystem bestraft einen dafür, dass man Hilfe sucht. Kinder gehen hungrig zur Schule und kehren hungrig wieder heim. Rishi Sunak, der neuste Premierminister im Strudel hyperkapitalistischer Schwachköpfe, ist reicher als der König und mit einer noch reicheren Steuervermeiderin verheiratet. Der wurstfingrige Ehebrecher König Charles verlangt, dass wir seine Krönung bezahlen: Das sind hundert Millionen Pfund, um ihm einen ungewöhnlichen, mit geraubten Juwelen verzierten Hut auf seinen sehr gewöhnlichen Kopf zu setzen. Abgeordnete und ihre Komparsen hinterziehen Millionen an Steuern und schöpfen Milliarden an öffentlichen Geldern ab.

Es ist kompliziert

Grosse Teile des Landes werden in Zollfreizonen umgewandelt. Riesige Gebiete ohne jede Regulierung, die zu Lehen von Piraten werden, in denen eine Diktatur der Unternehmen herrscht. Der erste Zollfreizonen-Finanzskandal ist unterdessen bereits Realität geworden, inklusive Umweltkatastrophe. Googeln Sie «Teesside» und «tote Krabben».

Die Bevölkerung wird mit Falschinformation, Desinformation und schrecklichen Mythen aus dem realitätsfreien Spritzschlauch von Steve Bannon / Alexander Poskrebyschew / Joseph Goebbels überflutet. Wir können keinen Zug nehmen, erhalten keinen Pass, keine Steuerdokumente, keine Grundstücksurkunden, keine Importpapiere, keine Exportpapiere. Nicht einmal Karotten ohne Erektionsstörungen und Fäulnis erhalten wir … Was nicht scheitert, ist bereits gescheitert. Mächtige Eugeniker:innen lassen Covid-19-Infektionen am Laufmeter zu, denn irgendwann werden diejenigen, die nicht gestorben sind, irgendwie fit sein. Die Übersterblichkeit umgibt uns mit Trauernden, während Long Covid weiterhin Millionen von Menschen quält. Wir sind ein riesiges Memento mori.

Nein. In Wirklichkeit sind wir ein Memento stultitiae – ein blöder Felsen, der im Strudel der eigenen Scheisse treibt und sich lediglich im Menschenhandel, in performativer Grausam­keit und Geldwäscherei für die übelsten Menschen der Welt hervortut. Seht her! Dummheit wird Sie genau hierhin führen – keinen Schritt weiter als zuvor, dafür ist alles kaputt und stinkt. Mariniert in nazistischen Parolen und Kontrolltechniken, spielen wir den Weltkrieg nach, den wir gewonnen haben, aber dieses Mal als Feind, der sich selbst überfällt und besetzt. Wir zerstören unsere eigene Infrastruktur und unser Erbe. Wir vergiften unsere Luft und unser Wasser, halten unsere Bevölkerung von Bildung und Grundrechten fern. Und leisten wir auch Widerstand …?

Vor Covid erlebte Grossbritannien die grössten Massendemonstrationen seiner Geschichte. Millionen gingen auf die Strasse und protestierten gegen den Brexit, gegen die Verur­sacher des Klimawandels und für die Menschenrechte, die Rechte der Frauen, die Rechte aller … Eine Handvoll einfallsreicher Millennials schaffte es, die Londoner Innenstadt lahmzulegen, ein Demagoge wie der 45. US-Präsident konnte nicht auf Staatsbesuch kommen, ohne mit lautstarkem Widerstand konfrontiert zu werden, ein neuer Labour-Chef der sanften Töne hatte ein überaus populäres Programm für wahrhaft progressiven Wandel, das seiner Partei neue Mitglieder und Millionen an Spenden einbrachte.

Sind wir überhaupt noch dasselbe Volk? Warum gibt es keinen Generalstreik oder gar Unruhen? Eine Revolte? Was ist passiert?

Es ist kompliziert.

Beziehungsweise … eigentlich ist es gar nicht kompliziert. Rassismus hat all unsere anderen Ressentiments freigesetzt und waffenfähig gemacht und eine Propaganda entfesselt, die stark genug war, den Labour-Chef zu vernichten und die progressiven Errungenschaften in ganz Grossbritannien zu zerstören. Wir sind rassistisch.

Mit Gottes Segen

Im 16. Jahrhundert waren wir eine durchschnittlich kriegerische europäische Nation: eher unbedeutend, regiert von korrupten und habgierigen Menschen, mit Königin Elizabeth an der Spitze, die bereits ein Faible für diejenigen Brit:innen hatte, die sich nahmen, was sie wollten, und dabei auch so brutal vorgingen, wie sie wollten. Nominell waren wir Christ:innen – hauptsächlich in dem Sinne, dass wir antisemitisch waren, alle anderen Religionen ablehnten und gewaltsam gegen jede christliche Konfession kämpften, die nicht unsere eigene war. Unsere Nationalkirche fusste auf dem Grundsatz, dass Königshäuser mit Gottes Segen tun und rauben durften, was sie wollen. Aus diesem schon uralten Verständnis von Blut und Besitzanspruch erwuchs die Gewissheit, dass einige Blutlinien Good und dazu bestimmt waren, alles zu besitzen und zu regieren, während die meisten Blutlinien Bad und zu Knechtschaft, Armut und frühem Tod bestimmt waren.

Nach und nach schufen diejenigen mit dem Guten Blut ein komplexes Geflecht aus kolonialen Handelsgesellschaften, irren Freibeutern, königlichen Schmiergeldern, Banditen und Menschenhändlern. Das British Empire wurde geboren. Wales war bereits in England eingegliedert worden, Schottland und Irland sollten bald folgen und schliesslich die halbe Welt. Inseln tendieren dazu, Schiffe zu besitzen, tendieren dazu, Flüchtlingen, die Handelsgeheimnisse, handwerkliche Fähigkeiten und Zähigkeit mitbringen, einen sicheren Hafen zu bieten. Mit dem Inselglück – und Industriespionage – auf unserer Seite haben wir die Industrialisierung früh begonnen und waren so in der Lage, mit zunehmender Effizienz zu erobern, zu plündern und zu versklaven.

Siegen ist leicht, wenn Sie Kugeln haben und die Gegenseite nur Speere – und Massen von hilflosen Zivilist:innen in Schussdistanz unserer Kanonenboote. Je mehr wir raubten, desto mehr expandierten wir, bis unsere Flagge die Völker nahezu aller Länder der Erde anwiderte. Was wiederum bewies, dass andere Menschen weniger wert waren, dass Weiss recht hat und ein englischer Jesus alle Sünden reinwaschen würde, solange man ein paar Eingeborenen Kirchenlieder beibrachte und sie zwang, alle Spuren ihrer früheren Kultur abzulegen.

Unser Empire vergiftete unser nationales Bewusstsein und rechtfertigte jede Barbarei im In- und Ausland. Brit:innen, die das nicht aushielten, mussten fliehen oder wurden umgebracht. Jene, die nicht genügend Ehrfurcht zeigten, wurden in die Streitkräfte eingezogen, getötet oder ohne Recht auf Rückkehr verbannt.

Von Nazi-neugierig zu Hitler-positiv

Obwohl der Erste Weltkrieg das Gespenst der Meritokratie in Grossbritannien aufkommen liess – vorwiegend aufgrund des Vergiessens von Gutem, aber dummem Blut –, änderte sich bis zum Zweiten Weltkrieg wenig. Das Empire war immer noch das Empire, und wir waren immer noch die edelste Rasse der Welt. Es überrascht nicht, dass viele Adlige und kurz auch unser König nicht nur Nazi-neugierig waren, sondern Hitler-positiv. Ribbentrops Annahme, dass unser etabliertes Empire und sein aufstrebendes Reich die Welt unter sich aufteilen könnten, war nicht weit hergeholt. Wir hatten bereits sehr viele jener Verbrechen begangen, die auch der Nationalsozialismus anstrebte. Doch unsere Eliten hielten den deutschen Botschafter für einen aufgeblasenen kleinen Ausländer. Dazu kommt: Wir teilen nicht.

Grossbritannien gewann den Zweiten Weltkrieg, indem es eine ganze Reihe neuer Ambitionen verfolgte, die es normalerweise unterdrückt. Wir wurden schrittweise und systematisch das Gegenstück zum Nationalsozialismus: Wir setzten uns für die Menschenrechte ein, schwächten den Einfluss der Konzerne, stärkten das Gemeingut, kümmerten uns um Menschen und nicht um Geld, kümmerten uns um alle Menschen und nicht nur um ein paar wenige. Gesellschaftliche Mobilität und ein darwinistischer Strudel liessen ein angeschlagenes und seines Empire beraubtes Nachkriegsgrossbritannien zurück, das jedoch demokratischer, gesünder, besser ausgebildet, vielfältiger, kreativer und optimistischer war als je zuvor. (Dennoch haben wir verhindert, dass bei den Nürnberger Prozessen von Völkermord die Rede war – es wäre zu peinlich gewesen.)

Wir begannen die siebziger Jahre als ein Land mit der geringsten Kluft zwischen Reich und Arm, die wir je hatten, mit einem Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit. Wir haben ehemalige Kolonien destabilisiert, in Aden gefoltert, in Kenia Konzentrationslager errichtet und Nordirland drangsaliert. Wir hatten immer noch Privatschulen, das Old-Boy-Netzwerk, nicht demokratisch gewählte Lords. Homosexualität war noch immer illegal, wir diskriminierten Frauen, Ir:innen und alle, die nicht weiss waren … Aber trotzdem veränderten wir uns zum Besseren. Oder etwa nicht?

Der Rassismus, er ist nie wirklich verschwunden. Tony Blair setzte Thatchers Erbe fort, verminte den Sozialstaat mit finanziellen Zeitbomben und entfesselte unsere Medien zu jenem verkommenen morgendlichen Hass, den sie immer anstrebten. Er hat den Nahen Osten in die Luft gejagt. Seine messianische und islamfeindliche Art des «Christentums» – sowie seine russlandnahen Berater – erlaubten ihm, Generationen von Muslim:innen in einer Reihe von Kriegen zu radikalisieren und zu traumatisieren und Putin den Hebel in die Hand zu geben, den er benötigte, um den Westen zu spalten: Wellen von Flüchtlingen und Migrant:in­­nen, die er nach Belieben auslösen konnte.

Rassistische Armee des Selbsthasses

Rassist:innen hegen eine ganze Reihe von selbstzerstörerischen, irrationalen Überzeugungen. Rassismus trotzt der Realität. Ohne Realität ist man anfällig für alle möglichen Manipulationen, ob es sich nun um den Verkauf von Flaggen oder um Ideologien, die unsere Demokratie zu Seife verarbeiten, handelt. Die britischen Rassist:innen wurden ermutigt, befähigt und schliesslich aufgehetzt. Einmal isoliert, wurden sie getröstet, bedroht und mit weiterem Hass ausgerüstet. In Grossbritannien, in den USA, in Brasilien, in Neuseeland – überall – brauchte es nur wenige Monate, um eine eigene, wild gewordene Armee des Selbsthasses heranzuziehen.

Onlineattacken zielen nun auf Schottlands erschreckend weibliche, fortschrittliche Regierungschefin Nicola Sturgeon – der Hass auf Transgenderpersonen wird als Waffe eingesetzt, um die schottische Unabhängigkeit zu verhindern. Damit das Gangsterkapital gedeihen kann, darf es keinen integrativen, progressiven Nationalismus geben, und die EU darf den Faschismus oder die supranationale Macht der Konzerne nicht eindämmen. Jeder Hass ist willkommen, um diesen Krieg zu gewinnen.

Pass auf, Schweiz. Du könntest als Nächstes dran sein.

Übersetzt von Stephan Pörtner. Die englische Originalfassung lesen Sie online unter www.woz.ch/kennedy.

Positive Pessimistin

Die Schottin A. L. Kennedy (57) ist preisgekrönte Autorin zahlreicher Romane, Kurzgeschichten und Kinderbücher. Manchmal tritt sie als Stand-up-Comedian auf – oder als Fellow der Royal Society of Arts.

Im März erscheinen gleich zwei neue Bücher von Kennedy auf Deutsch: im Hanser-Verlag der Roman «Als lebten wir in einem barmherzigen Land» über die Auseinandersetzung mit einem V-Mann in einer Strassenkünstlergruppe, im neuen Schweizer Geparden-Verlag ihr Essay «Der Kern der Dinge» über das Schreiben aus der Position eines hoffnungsvollen Pessimismus.