Die Tories nach Johnson: Eine «Arbeiterpartei» für die Reichen
Die Kandidat:innen für die Nachfolge von Boris Johnson an der Spitze der Konservativen Partei und der britischen Regierung wollen alle das Gleiche: weniger Steuern. Damit wird die Partei junge Wähler:innen verlieren.
Niemand wird behaupten, Tory-Schlammschlachten seien nicht unterhaltsam. Da wird auch mal ein Kollege als «verräterischer Bastard» oder «Schlange» beschimpft. Der giftige Ton bedeutet jedoch nicht, dass es zwischen den Anwärter:innen für das Amt als Premierminister:in besonders gravierende Meinungsverschiedenheiten über die künftige politische Stossrichtung gibt. Am rechten Kurs von Boris Johnson, der auf Anfang September zurücktritt, wird sich kaum etwas ändern.
Alle Kandidat:innen versprechen den «Neuanfang». Wie dieser aussehen soll? Alles wird bleiben, wie es ist – ausser dass die Steuern weiter sinken sollen. Zwar versuchen die Kandidierenden, eigene Schwerpunkte zu setzen, wie etwa ein ausgeglichener Haushalt (Rishi Sunak) oder eine härtere Brexit-Politik (Suella Braverman). Der Ruf nach weniger Steuern ist jedoch das grosse Versprechen. Nachdem Johnson sich ideologisch flexibel gezeigt und sich für staatliche Investitionen starkgemacht hat, berufen sich die Anwärter:innen auf seine Nachfolge auf die traditionelle Rolle der Tories: die als Tiefsteuerpartei.
Verschlankung des Staates
Brit:innen mit niedrigen Löhnen würden laut Ökonom:innen davon kaum profitieren, vielmehr würden die Steuerpläne die Ungleichheit weiter verschärfen. Paul Johnson ist Vorsitzender des unabhängigen Instituts für Fiskalstudien, er warnt, dass dies «dramatische Kürzungen» bei den Sozialausgaben nötig machen würde. Einige Kandidierende sagen unumwunden, dass genau das ihr Ziel sei.
Die Tories machen sich just zu einer Zeit an die weitere Verschlankung des Staates, in der das Land in die tiefste soziale Krise seit Jahrzehnten schlittert. Die Inflation liegt bei über neun Prozent, Hunderttausende Haushalte drohen in die Armut zu rutschen. Aber für die Konservativen, die das Land führen wollen, scheint das alles nebensächlich zu sein.
Vom Brexit profitiert
Das ist nicht verwunderlich. Im Kampf um Johnsons Nachfolge geht es einzig darum, einen winzigen Teil der Bevölkerung für sich zu gewinnen: die Tory-Unterhausfraktion sowie die maximal 200 000 Parteimitglieder, die zusammen den künftigen Premierminister oder die Premierministerin bestimmen. Sie haben laut Umfragen ein recht einheitliches demografisches Profil: Die Mehrheit ist über sechzig Jahre alt, weiss und in sozialen Fragen stockkonservativ; zudem leben die meisten im wohlhabenderen Süden Englands. Nur vierzehn Prozent befürworten eine stärkere soziale Umverteilung als heute. Wieso sollten die Bewerber:innen für das höchste Regierungsamt von der sozialen Krise reden, wenn sie den meisten dieser Leute egal ist?
Seit Johnsons Sieg Ende 2019 kursiert die These, wonach nunmehr die Tories die Partei der «Arbeiterklasse» seien. So habe der Brexit die ehemaligen Labour-Wähler:innen im Norden Englands in deren Arme getrieben. Das ist nicht falsch: Seit Jahren kehren immer mehr ehemals linke Wähler:innen der Labour-Partei den Rücken; der Brexit hat diesen Trend beschleunigt. Dennoch greift die These zu kurz, wie Politologen der Universität Oxford in einer Studie schreiben: Die Vorstellung, wonach ökonomisch benachteiligte, sozial konservative Wähler:innen im Norden Englands nunmehr die Tories wählten, sei irreführend. «Wir kommen zum Schluss, dass die Konservativen einen Grossteil ihres Erfolgs der ökonomischen Sicherheit ihrer älteren Wähler verdanken»: Die Leute, die zu den Tories übergelaufen sind, stammen vor allem aus älteren Generationen, denen finanzielle Not weitgehend fremd ist.
Haben oder nicht haben
Die Partei hat sich auch in den letzten Jahren stark an den Interessen dieser Leute ausgerichtet: vom sozialen Konservatismus über den Brexit bis zur Wohnungspolitik. Die Tory-Regierung hat zum Beispiel nichts unternommen, um Wohnraum für jüngere Leute erschwinglich zu machen. Die Immobilienpreise sind in den vergangenen fünfzig Jahren fast doppelt so schnell gestiegen wie die Löhne. Viele junge Leute haben den Traum eines Eigenheims schon längst aufgegeben. Die ältere Generation hingegen, die bereits Wohnungen besitzt und deren Vermögen sich entsprechend aufgebläht hat, kann damit sehr gut leben.
Langfristig birgt dies für die Tories allerdings eine Gefahr. Die Konservative Partei werde auf eine Krise zusteuern, wenn sie der jüngeren Generation nichts biete, schreibt der Soziologe Phil Burton-Cartledge in seinem Buch «Falling Down» (2021). Die Annahme, dass Wähler:innen im Alter automatisch konservativer würden, basiere auf einem Trugschluss. Entscheidend sei nicht das Alter, sondern die Tatsache, dass viele in den älteren Generationen ein Vermögen anhäufen konnten: Der Besitz von Eigentum, vor allem Eigenheimen, sei «die magnetische Kraft», von der die Tories profitierten, so Burton-Cartledge.
Die jüngere Generation jedoch bleibt weitgehend eigentumslos. Und so wird auch die Wähler:innenschaft der Tories laufend schrumpfen. Keine:r der Kandidierenden für Johnsons Nachfolge scheint eine Strategie zu haben, wie dieses langfristige Problem angegangen werden soll.
Wer wird Premier?
Anfang der Woche waren es noch elf Tories, die sich um die Nachfolge des abtretenden Premierministers Boris Johnson bewarben, am Dienstagabend blieben noch acht, die genug Stimmen aus der Partei erhielten; bis Ende nächster Woche sollen nur noch zwei Kandidierende übrig bleiben, die anschliessend auf Wahlkampftour gehen werden. Als Kronfavorit für den Posten gilt Rishi Sunak, der kürzlich als Johnsons Finanzminister zurückgetreten ist.