Ein Traum der Welt: Die grosse Batterie
Annette Hug beschäftigt sich mit Lithium in Hirn und Welt
Man möchte dieser Tage nicht manisch sein. Damit meine ich die Tendenz, von Zeichen bedrängt zu werden, die sich ganz plötzlich und wiederholt zu einem grossen Sinn fügen. Anders gesagt: In einer Fülle von Informationen verdichten sich umwerfende Erkenntnisse. Alles scheint mit allem verbunden, das Innerste mit dem Planetarischen. Wenn sich diese Tendenz in einen krankhaften Zustand steigert, kann Lithium zum Einsatz kommen. Der Wirkstoff ist ein alter Traktor unter den Psychopharmaka; als chemisches Element trägt das Alkalimetall das Kürzel Li. Es macht seit einiger Zeit Schlagzeilen, weil sein Preis durch die Decke geht und der EU-Kommissar für Interinstitutionelle Beziehungen, Maroš Šefčovič, angekündigt hat, dass die Europäische Union bis 2025 zum zweitgrössten Lithiumbatteriehersteller nach China aufsteigen werde. 2025 ist in zwei Jahren, Šefčovičs Plan also ambitiös, denn Chinas Dominanz bei den Batterien ist erdrückend, Australien und Chile liefern Rohstoffe. Der angekündigte Bergbauboom in Europa kommt nicht in Fahrt. Gegen die Gewinnung von Lithium im Tagebau wehren sich lokale Bevölkerungen, zum Beispiel am serbischen Fluss Jadar oder im spanischen Cáceres.
Man möchte nicht manisch sein und in einer grossen Schau den Zusammenhang zwischen Elektromotoren und dem menschlichen Gehirn sehen: Beide sind offenbar auf Lithium angewiesen, um einen steten Takt zu finden, der die Welt in eine rettende Spur führt, «wenn denn die Rettung von Elektrobatterien herkommt», sagt ein skeptischer Leser, der sich an einem Bücherfestival im elsässischen Saint-Louis vor meinen Signiertisch stellt und laut über erneuerbare Energien nachdenkt. Er spricht ganz ruhig. Geothermie sei schön und gut, selbst aus 3000 Metern hochgepumptes Heisswasser, nur sei es auch zu Erdbeben gekommen, und das in einer Gegend, in der Atomkraftwerke herumstünden. Er spricht von «unheimlichen Interferenzen». Aber ausgerechnet die Geothermie am Rhein könnte die Lösung für das Lithiumproblem sein: Vulcan Energy heisst eine Firma, die im Elsass und in Baden-Württemberg als Nebenprodukt der Energiegewinnung das «weisse Gold», das gute Element Li, aus dem heissen Wasser lösen will. Nimm das, China!
Man möchte dieser Tage nicht manisch sein, auch nicht ein bisschen, nicht mal so sanft, dass ein einziges Temesta reicht, um eine Nacht gut durchzuschlafen. Das Benzodiazepin Temesta hat mit Elektrobatterien nichts zu tun, aber es ist knapp. So kommt es, dass eine Ärztin während der Konsultation begeistert ausruft: «Ich habe Ihnen ein Päckli ergattert!» Das gehört offenbar zur neuen Normalität, in der sich ein Spitalapotheker aufmachen muss, privat ein öffentliches Verzeichnis der rund tausend Medikamente zu führen, die gerade nicht lieferbar sind. Die Liste der möglichen Gründe ist bemerkenswert: Wegen der Covid-Massnahmen war in China die Produktion einiger Wirkstoffe unterbrochen. Wegen des russischen Angriffskriegs steigen Energiepreise, deshalb wird Spezialglas für die Pharmabranche zur Mangelware. Papier für Beipackzettel ist zeitweise knapp. Gewinnmargen entsprechen nicht den Erwartungen der Hersteller. Fachkräftemangel. Zuständigkeitsprobleme zwischen Bund und Kantonen. Alles hat mit allem zu tun. Aber verrückt werden soll man deswegen nicht.
Annette Hug ist Autorin in Zürich. Es geht ihr gut. Sie bewundert die Arbeit von Enea Martinelli, dem die Website drugshortage.ch zu verdanken ist. Dort findet man aktuelle Informationen zu Lieferengpässen bei Medikamenten.