Im Affekt: Walsers Seelenfrieden
Der sehr deutsche Schriftsteller Martin Walser ist 96-jährig gestorben. Die Nachrufe nennen ihn grossspurig einen «Chronisten der deutschen Seele», «eine Jahrhundertgestalt». Es «gab keinen wahrhaftigeren Schriftsteller der alten Bundesrepublik», findet die «Süddeutsche». Wo Wahrhaftigkeit gesteigert wird, muss man direkt misstrauisch werden. Auch Literaturkritiker Martin Ebel versteigt sich schon im ersten Satz: Den «schweizerischsten unter den Autoren Deutschlands» nennt er Walser in den Tamedia-Zeitungen. Und wie viele Kollegen kommt Ebel zum Schluss, Walsers berüchtigte Friedenspreisrede von 1998 sei ganz «recht» (ohne s) und quasi visionär gewesen. Über eine «Dauerrepräsentation unserer Schande» hatte der Schriftsteller da lamentiert und den Holocaust gemeint. Er habe «lernen müssen, wegzuschauen», wenn man «uns wehtun» wolle.
Beim lauten Applaus der versammelten deutschen Eliten blieben damals nur wenige sitzen: namentlich das Ehepaar Bubis, zwei Holocaustüberlebende. Und Ignatz Bubis nahm es auch auf sich, Walser öffentlich zu widersprechen. Im FAZ-Gespräch musste sich Bubis von Walser, selber Teil der NS-«Flakhelfergeneration», dann aggressiv belehren lassen: «Ich will meinen Seelenfrieden, verstehen Sie?» – «Unser Gewissen lassen wir uns nicht von anderen vorschreiben.» Unser? Andere?
Zum 20. Jahrestag der Rede beschrieb «Die Zeit» treffend, wie der Rechtspopulismus aus einer «Abwehr der Verantwortung für den Nationalsozialismus» wachse, zu der Walser entscheidend beigetragen habe. Auch indem er die rechtsextremen Anschläge auf Geflüchtete in Rostock und Lichtenhagen verharmloste und Bubis gar vorwarf, erst seine Anwesenheit als Überlebender binde diese Gewalt an die NS-Zeit zurück. Eine groteske Schuldverdrehung, die ein jüdisches Bonmot genau auf den Punkt bringt: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen. Wie die Nachrufe nun zeigen, wird Walsers Gedächtnisverweigerung auch im deutschsprachigen Feuilleton weitgehend akzeptiert.
Sowieso lässt man Walser nun alles durchgehen: Schmierige Altherrenerotik heisst neu «wunderbar elegisch anverwandeln».