Elisabeth Bronfen: «Was mich am meisten erstaunt, ist die hartnäckige Fähigkeit, zu verdrängen»

Nr. 34 –

Sie lehrte drei Jahrzehnte lang an der Universität Zürich. Im Gespräch zieht Elisabeth Bronfen Bilanz: über den literarischen Kanon, neue Empfindlichkeiten und die Angst vor Ambivalenzen.

Elisabeth Bronfen
«Die wirklich empfindsamen Studierenden kommen sowieso nicht in meine Seminare. Die haben Angst vor mir»: Elisabeth Bronfen.

WOZ: Elisabeth Bronfen, Sie waren dreissig Jahre lang Professorin für Anglistik in Zürich. Das ist zwar nichts in der Zeitrechnung literarischer Epochen. Trotzdem die Frage: Wie weit hat sich der literarische Kanon seit Ihren Anfängen hier verschoben?

Elisabeth Bronfen: Ausser dass die Studierenden sehr viel weniger lesen als damals?

Das ist die grösste Veränderung?

Nein, aber ich würde sagen, das ist eine von zwei Verschiebungen. Wir haben den Pflichtstoff stark reduziert. Aber – und dafür bin ich auch eingetreten – wir sind so divers geworden, wie man sein kann, zumindest in der zeitgenössischen Literatur. Als ich nach Zürich kam, war ja keine einzige Frau auf der Literaturliste, auch kein Jude und keine Person of Color! Wir haben dann darauf geachtet, so viele Autorinnen wie möglich auf die Liste zu nehmen und auch die anderen englischsprachigen Literaturen: Südafrika, Australien und Neuseeland, aber auch Indien. Bloss, wird das wirklich gelesen? Die Liste ist jetzt zwar sehr divers, aber dann suchen sich die Studierenden halt – so befürchte ich – fünf Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe aus, dazu das eine Pflichtstück von Shakespeare aus dem Grundkurs und Vampir- und Fantasygeschichten. Wenn nur sehr wenig gelesen wird, fällt die Diversität auch zum Fenster raus.

Und in den Lehrveranstaltungen: Laufen die Diskussionen heute anders als in den ersten Jahren Ihrer Professur?

Es besteht jetzt natürlich die Gefahr, dass ich mich anhöre wie meine Mutter vor dreissig Jahren. Aber es ist halt so, Nostalgie verklärt. Ich will versuchen, es auszudifferenzieren und nicht einfach unsere Studierenden zu kritisieren, das wäre mir zu einfach. Was ich feststelle: Es ist wesentlich weniger intellektuell. Es werden zwar durchaus bestimmte theoretische Texte gelesen, die aber viel mehr modisch ausgerichtet sind. Dass man sich an etwas abarbeitet und sich intellektuell reinbeisst, was teilweise natürlich auch Absurditäten mit sich gebracht hat: Das gibts jetzt gar nicht mehr. Wir sind in einer Kultur der Handbücher und vor allem der Anwendbarkeit. Das alles ist absolut redlich. Aber, und das ist der Punkt: Ein Melville-Seminar könnte ich heute nicht mehr unterrichten, weil ich nicht davon ausgehen kann, dass Studierende nicht nur «Moby Dick», sondern auch drei weitere Romane von Melville lesen, geschweige denn einen ganzen Handapparat mit Sekundärliteratur. Ich weiss, dass sie das nicht tun.

Hollywood und Shakespeare

Geboren 1958 in München, sorgte Elisabeth Bronfen erstmals 1992 mit ihrer Studie «Over Her Dead Body» für Aufsehen. Schon mit 35 Jahren wurde sie als Professorin für Anglistik an die Universität Zürich berufen, wo sie von 1993 bis 2023 am Englischen Seminar tätig war.

In ihren Büchern hat sich die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin immer wieder mit Hollywood und Shakespeare beschäftigt. Nach ihrem Kochbuch «Besessen» (2016) erscheint diesen Herbst im Limmat-Verlag ihr erster Roman, «Händler der Geheimnisse».

Und die Diskussionen, werden die heute anders geführt?

Man muss das einbetten. Die Studierenden wissen, dass sie tatsächlich zu den «flexiblen Menschen» gemacht worden sind, von denen Richard Sennett gesprochen hat. Kaum jemand von ihnen darf sich vorstellen, die nächsten vierzig Jahre am gleichen Ort zu arbeiten. Wozu also sollen sie sich irgendwo in die Tiefe einarbeiten? Da kommt der Begriff der Selbstoptimierung ins Spiel: Ich muss mich nicht nur in meinem Lebensstil optimieren, sondern auch arbeitstechnisch, muss meinen Lebenslauf fortwährend kuratieren. Es bringt nichts, wenn ich irgendwo zu viel Zeit reinstecke, denn Optimierung heisst: Flexibilität überall. Gekoppelt ist das natürlich mit der fatalen Einführung der Bologna-Reform.

Inwiefern?

Durch die Kreditpunktvergabe werden die Studierenden ins Punktezählen gepresst. Das hat sich in den Köpfen verselbstständigt. So schnell wie möglich, so effizient wie möglich und auch nicht so sehr in die Tiefe, das ist die Idee. So kann man sie später dazu bringen, Weiterbildungskurse zu machen – für die sie dann ziemlich viel Geld bezahlen müssen. Auch die Selbstorganisation in Lesegruppen findet man heute kaum mehr: Wenn es solche Gruppen gibt, dann meist nur zur Vorbereitung auf eine Prüfung. Die Studierenden bewegen sich innerhalb eines neoliberalen, kapitalistischen Bildungs- und Arbeitssystems, und es wäre zynisch, wenn ich jetzt sagen würde, die sollten doch subversiv sein und ausbrechen.

Neben Ihrer Professur in Zürich haben Sie immer wieder auch in den USA unterrichtet. Über das Klima an dortigen Unis kursieren ja so manche Geschichten. Wie gross sind die Unterschiede wirklich?

Wenn ich in den USA unterrichte, dann nur auf der Doktorand:innenebene. Und bei diesen Programmen ist es so, dass sie nur eine bestimmte Zahl von Studierenden aufnehmen, das heisst, es ist ein Wettbewerb. Bei einer Universität wie in Zürich ist das anders. Die Leute, die hier promovieren, mussten sich bei uns nicht bewerben.

Und man darf nicht vergessen: Die amerikanische Universitätslandschaft ist riesig, und gleichzeitig ist das Studium teuer. Das heisst, man muss sich nicht nur bewerben, man zahlt auch sehr viel Geld. Und in den letzten Jahren gingen Universitäten immer mehr dazu über, sich als Firma zu positionieren, mit den Studierenden als Kund:innen. Das sollte man immer bedenken bei der Debatte darüber, was Studierende fordern oder nicht fordern. Das hat viel mit dieser amerikanischen Einstellung zu tun: Wir zahlen dafür, dann wollen wir auch das, was wir uns darunter vorstellen.

Die Universität als Dienstleistungsfirma, für die der Student einfach ein Kunde ist – also König?

Genau. Das ist in Zürich, Basel, Bern nicht der Fall. Hier haben die Leute, wenn sie die Matura gemacht haben, das Recht, mehr oder weniger alles zu studieren, was sie studieren wollen. Dadurch haben wir hier noch viel mehr Deutungshoheit über das, was wir unterrichten oder nicht.

Das heisst, wenn Studierende in den USA für andere Lehrpläne und einen diverseren Kanon kämpfen, ist das gar nicht so sehr ein Kampf von unten gegen oben, sondern eher einer nach dem Motto: «Wer zahlt, befiehlt»?

Diese Debatten um den Kanon, um Diversity und das, was jetzt unter dem Schlagwort «woke» läuft, das mittlerweile etwas ganz anderes bedeutet, als ursprünglich damit gemeint war: Natürlich geht das von den Studierenden aus, aber das heisst, von den Studierenden und deren Eltern. Und das hängt jeweils sehr davon ab, wie die Universitäten das auf der Leitungsebene einschätzen. Wenn sie kein Geld damit machen würden, würden sie gar nicht darauf eingehen. In gewisser Weise hat das mit Marktbedürfnissen zu tun, sonst würden solche Dinge niemals durchgesetzt.

Was auch gerne kolportiert wird: Die Studierenden seien empfindlicher geworden, was problematische oder auch potenziell traumatische Literatur angehe. Würden Sie das bestätigen?

Das kommt sehr darauf an, in welchem Seminar man ist. Bei den Wirtschaftswissenschaften käme wohl kaum jemand auf die Idee, so etwas zu sagen. Es ist schon mein Eindruck, dass Befindlichkeit jeglicher Form, also Empfindsamkeit, im Moment für Studierende sehr wichtig ist. Aber ich zögere ein wenig, das als etwas Neues zu sehen. In den achtziger Jahren in Deutschland gabs das auch schon: «He, du, das finde ich jetzt nicht gut, was du da sagst. Das macht mich so richtig kaputt.» Durch die Ausbreitung im Internet ist das ein globales Phänomen geworden. Doch diese Empfindsamkeit konnte man immer schon bei jungen Leuten an der Universität beobachten, und ich habe das nie wirklich als störend empfunden. Aber ich bin auch sehr ironisch. Und ich glaube, die wirklich empfindsamen Studierenden kommen sowieso nicht in meine Seminare. Die haben Angst vor mir. (Lacht.)

In meiner Studienzeit war der Autor zwar noch tendenziell weiss und männlich, aber er war immerhin tot, mit Roland Barthes gesprochen. In Zeiten von #MeToo ist die Trennung von Werk und Autor nicht mehr ohne Weiteres haltbar. Konkretes Beispiel: Dass der Philosoph Louis Althusser seine Frau, die Philosophin Hélène Rytmann, getötet hatte, blieb für uns damals eine biografische Randnotiz. Ist das heute anders?

Nun gut, das ist jetzt wirklich derart partikular. Man sieht daran, wie fanatisch diese beiden Denker waren. Die haben sich so sehr in ihre politisch-theoretische Position verbissen, bis sie nicht mehr miteinander sprechen konnten – und er sie dann umbringt, um diese Position loszuwerden. Das ist ja, was mich an kulturellen Phänomenen interessiert: Was zeigt sich da, was wird hier deutlich? Nicht: Finde ich das gut oder schlecht, ist es verwerflich oder nicht? Es mag ja verwerflich sein, aber für das Verständnis einer bestimmten kulturellen Figuration mag es trotzdem auch erhellend sein. So viel würde ich zu Althusser sagen. Ganz abgesehen davon würde das für mich niemals entwerten, was er geschrieben hat.

Niemals?

Da bin ich wirklich eine Hardlinerin. Nehmen wir Louis-Ferdinand Céline: Der kann so antisemitisch gewesen sein, wie er will, die «Reise ans Ende der Nacht» bleibt ein grandioser Roman über den Ersten Weltkrieg. Ich sehe schon, dass es Werke gibt, die dann wirklich zu schrecklichen Anschlusshandlungen führen, wenn wir etwa an die Filme von Veit Harlan denken. Aber ich kann nicht verstehen, dass die deutschen TV-Sender jetzt keine Ufa-Filme mehr zeigen wollen. Das ist deutsche Geschichte und deutsche Filmgeschichte. Natürlich muss man die zeigen. Darüber muss man auch reden.

Elisabeth Bronfen

Wenn wir nun von problematischen Texten im Unterricht sprechen: Sind Sie da vorsichtiger geworden?

Ich habe mal für ein Seminar, ohne darüber nachzudenken, auch Vladimir Nabokovs «Lolita» auf die Liste gesetzt. Zwei Wochen vor dem Seminar dachte ich: Um Gottes willen! Aber die Studierenden fanden das dann gar nicht problematisch. Ich sagte: Erstens, schaut euch bitte die Erzählinstanz an. Dieser Humbert Humbert ist ein unzuverlässiger Erzähler. Zweitens, lest den Roman gegen den Strich, und dann merkt ihr: Die Gewalt, die Humbert dem Mädchen antut, wird sehr deutlich, durch die Leerstellen. Da musste ich nicht viel argumentieren. Was wir hier üben, ist Lesen. Und Lesen heisst: Liest man etwas, wie es scheinbar intendiert ist, oder liest man es gegen den Strich? Ganz abgesehen davon: Es sind Darstellungen. Das war es auch, was mich an den Epilogen bei Shakespeare so begeistert hat, wenn die sich am Ende eines Stücks hinstellen und sagen, das sei ja alles nur Theater gewesen. Sie tun das in einer Kultur der Zensur, was Shakespeare erlaubt, staatskritische Stücke zu schreiben, wenn man am Ende dann sagen kann: Wir waren nur Theater, ihr habt hier mit uns geträumt.

Eine Ihrer zentralen Lektionen war stets, dass man problematische Zeichen gegen diese selbst wenden kann. Aus dem kritischen Blick auf gewisse misogyne Muster in der Kultur haben Sie auch eine spezifisch feministische Lust gezogen.

Bei Büchern oder Filmen, die mich wirklich begeistern, ist es viel schwieriger, kluge Dinge darüber zu sagen. Ich kann viel besser über Sachen arbeiten, die mich irgendwie stören, die mich eben zum Weiterdenken zwingen. Die Lust daran ist für mich das Entscheidende.

Und ergiebig ist diese Lust dann, wenn Sie sich analytisch an etwas abarbeiten müssen, das Sie stört?

In irgendeiner Form, ja. Um es mit diesem schweizerdeutschen Wort zu sagen: Wenn mich etwas umtreibt, dann beginnts zu «treiben» – dann zwingt es mich nachzudenken.

So haben Sie das einst schon im Buch «Nur über ihre Leiche» vorgemacht, Ihrer Studie über die Lüste und Ängste, die in dem literarischen Motiv der schönen weiblichen Leiche wirken. Denken Sie, dass die Bereitschaft, solche fragwürdigen Bilder und Zeichen auf diese Weise lustvoll neu aufzuladen, generell abgenommen hat?

Ja, wahrscheinlich schon. Aber das heisst nicht, dass wir das nicht weiterhin machen können und auch müssen. Wir hören von Bildern, die abgehängt werden, oder von Leuten, die sagen, dass sie nicht mehr bereit seien, sich mit nackten Frauen in der Malerei auseinanderzusetzen. Ich würde einfach darauf bestehen, dass man Kunstwerke auf ihre Vieldeutigkeit und ihre Widersprüchlichkeit hin lesen kann und soll. Das ist das Erbe von Shakespeare wie auch der frühen amerikanischen Literatur, die ja innerhalb eines strengen puritanischen Kontexts entstanden ist. Diese Mehrdeutigkeit in der Literatur ist ganz entscheidend, immer schon gewesen. Wenn man das Auge dafür nicht mehr hat, weil man nur noch auf die Oberfläche schaut, wird es schwierig. Beim ersten Lesen sieht man sehr wenig, man muss mehrmals hingucken und die Sachen immer wieder lesen. Die Bereitschaft, das zu tun, ist kleiner als auch schon.

Würden Sie sagen, dass wir gerade auch in der Kultur verlernt haben, Ambivalenzen auszuhalten?

Das sowieso. Deshalb hat man heute auch so grosse Schwierigkeiten, sich zu streiten.

Wo würden Sie die Ursachen orten?

(Denkt nach.) Ich weiss es nicht. Aber ich versuchs mal. Zeit? So etwas braucht Zeit. Man muss viel lesen und sich wirklich mit dem Stoff auseinandersetzen. Was auch vielen fehlt: Vergangenheit. Wenn man etwas mit anderen Zeiten vergleichen kann, merkt man, dass es oft gar nicht so neu ist und vielleicht auch komplexer. Ich bin so erzogen worden, meine intellektuelle Formation hat mit Widerstreit und Ambivalenzen zu tun. Das hat auch mit dem jüdischen Denken meines Vaters zu tun, da basiert ja alles auf Widerstreit, auf dem Hadern mit dem heiligen Text und seinen Kommentatoren. Und ich bin die kleine Schwester derer, die 68 gegen ihre Eltern gekämpft und alles infrage gestellt haben. Da ging es ja permanent um Streit und Widerstreit. Das hat sich sehr geglättet. Und drittens, aber das ist jetzt wirklich reine Spekulation …

Bitte sehr.

In der Kultur, in der wir leben, sieht alles so perfekt, so sicher und so wohlständig aus. Aber viele Leute spüren, dass alles sehr unsicher ist. Und ich meine nicht, dass übermorgen die Welt verbrennen wird und der Dritte Weltkrieg ausbricht. Aber diese Instabilität, wie wir sie in den ersten Monaten von Covid erlebt haben: Ich war überzeugt, dass uns das jetzt nachhaltig prägen wird und dass wir nicht mehr in alte Denkmuster zurückfallen werden. Da habe ich mich wirklich geirrt. Da ist was mal aufgetaucht, und jetzt haben wir es wieder verdrängt. Das wäre also mein drittes Wort: massive Verdrängungsversuche. Ambivalenzen haben ja auch damit zu tun, dass man Sachen aufdeckt und dann weiterbuddeln muss.

Also ein durchaus aufklärerischer Impuls. Ist das Ihre Triebfeder?

Die zwei Seiten meines theoretischen Begehrens sind einerseits die ganze Frage um den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Über den Zweiten Weltkrieg muss man immer weiter nachdenken, das heisst: über Faschismus, über Rassismus, über Gewalt und Geschichte. Man muss weiter darüber reden und die Leute zwingen, auf etwas zu schauen, was sie noch immer vertuschen wollen. Damit verbunden sind die Psychoanalyse, die Traumatheorie und die Gewalttheorie und die Frage, wie Kultur und Politik zusammenhängen und wie dieser Zusammenhang in gewissen ästhetischen Gebilden durchgearbeitet wird.

Und die andere Seite Ihres theoretischen Begehrens?

Das bleibt für mich das feministische Interesse. Frauen haben immer noch nicht die gleiche Stellung und kriegen immer noch nicht gleich viel Geld für gleiche Arbeit, und es gibt immer noch eine gläserne Decke. Da ist es mir eigentlich egal, ob man jetzt eine liberale Feministin, eine Differenzfeministin oder eine andere Art Feministin ist. Dieses Engagement für Gleichstellung in Bezug darauf, welche Texte wir lesen, wie wir die Geschichte anders anschauen, das hat tatsächlich etwas Aufklärerisches: weiterlesen, weiterschreiben, sich weiterhin streiten. Und die Leute davon überzeugen, dass wir, wenn wir über Diversität in unserer Kultur nachdenken wollen, das auf diverse Weise tun müssen.

Wenn wir an Begriffe wie «kulturelle Aneignung» oder «Critical Race Theory» denken, kann man den Eindruck gewinnen, dass akademische Konzepte heute viel breiter in die Gesellschaft überschwappen – nur eben oft völlig verzerrt. Wie erklären Sie sich das?

Das ist tatsächlich neu. Die marxistische oder auch die dekonstruktivistische Sprache tauchte früher ja nur bedingt im öffentlichen Diskurs auf. Heute übernehmen Leute Begriffe, ohne zu wissen, wo sie herkommen, und appropriieren sie ihrerseits für irgendetwas. Ich nenne das Bing-Wörter: Die machen «Bing!», wenn man sie hört, und dann muss man gar nicht weiterdenken. Das sind eigentlich lauter mythische Signifikanten, die man, losgelöst von ihrem Kontext, für dieses und für jenes benutzt. Die eigentliche Diskussion, die an den Begriffen hängt, ist längst weg. Man benutzt sie wirklich nur noch wie Pingpongbälle. Für mich ist die Frage: Warum ist das jetzt die Debatte, die auf einmal die Politik so erhitzt? Das ist ja eigentlich komisch. Warum entzünden sich die Debatten an Begriffen wie «Cancel Culture» oder «kulturelle Aneignung»? Meine Antwort wäre: Das sind eigentlich Scheingefechte.

Scheingefechte? Wie meinen Sie das?

Ich muss das auffächern. Erstens: Die Welt ist globaler geworden, und die Kulturen sind tatsächlich diverser geworden. Und es gibt auch – zu Recht – den Anspruch auf mehr Demokratie. Und Demokratie heisst, diese Diversität im öffentlichen Raum, ob der nun real oder virtuell ist, ernst zu nehmen. Das heisst aber auch, dass man den inneren Widerstreit aushalten muss, den wir damals mit Derridas Begriff der Differenz fassten: Differenz als das, was sich nicht auflösen lässt. Das sind Begriffe, die ich lieber in der Öffentlichkeit sehen würde als kulturelle Aneignung oder Critical Race Theory. Das hatten wir alles schon mal.

Und jetzt ist das alles noch viel brisanter als in den neunziger Jahren, als wir das Buch «Hybride Kulturen» herausbrachten. Da waren wir die Ersten im deutschsprachigen Raum, die den postkolonialen Denker Homi K. Bhabha übersetzt haben. Die Germanisten fanden damals: Ach, komm jetzt, für uns in der deutschsprachigen Welt ist das doch nicht wichtig.

Das wäre heute undenkbar. Aber wie meinen Sie das jetzt mit den Scheingefechten?

Ich glaube, diese Wanderung von entleerten wissenschaftlichen Begriffen in den öffentlichen Diskurs ist eine Krücke in einer öffentlichen Kultur, die sehr komplex geworden ist, eine Komplexitätsreduktion, die uns erlaubt, eine klare Meinung zu haben: Willst du das Gendersternchen oder nicht? Findest du, dass man noch immer Goethes «Faust» lesen soll oder nicht? Darf man an der Highschool ein Schultheater über ein schwules Paar machen oder nicht? Da können die Leute schnell Ja oder Nein sagen. Dann müssen sie sich nicht mit dem auseinandersetzen, was viel wichtiger wäre und was dabei unter den Tisch gekehrt wird. Zum Beispiel die Klassenfrage oder auch die Tatsache, dass die Demokratie ein offenes Projekt ist, an dem wir immer weiter arbeiten müssen.

Sie sind seit bald zwanzig Jahren Schweizerin. Was ist für Sie das grösste Rätsel an diesem Land?

Was mich am meisten erstaunt? Die hartnäckige und absolut funktionierende Fähigkeit, zu verdrängen, statt die Dinge offen auszutragen. Diese Kultur des Zurückhaltens, des Nichtredens, des Hinter-dem-Rücken-Redens. Und damit verbunden diese Kultur der Seilschaften und der kleinen, vernetzten Machtgruppen – und wie unmöglich es ist, das aufzubrechen.

Und das ist hier besonders ausgeprägt?

Das ist in Zürich besonders ausgeprägt. Wahrscheinlich auch in Basel und Bern, aber ich kann es nur für Zürich festmachen.

Ist das auch eine Aussage über die Uni?

Das ist eine Aussage über die Uni, über die Kulturinstitutionen, über die Medien.

Florian Keller hat bei Elisabeth Bronfen studiert und 2003 bei ihr das Lizentiat gemacht.