Erwachet!: Ciao, Michela

Nr. 34 –

Michelle Steinbeck über ein Begräbnis

«Ich habe die Zeit meines Lebens», sagte die todkranke sardische Autorin Michela Murgia Ende Mai beim Literaturfestival in Turin. «Ich sage alles, mache alles. Was wollen sie, mich feuern? Ich will Modeschauen sehen, dafür war ich immer zu arm und zu kommunistisch – was hätten die Leute gedacht? Jetzt habe ich keine Grenzen mehr und sage euch: Wartet nicht, bis ihr Krebs habt, um es so zu machen. Wenn wir alle so denken würden, hätten wir wahrscheinlich keine Faschist:innen in der Regierung.»

Der Wunsch, nicht unter Georgia Meloni zu sterben, blieb ihr verwehrt: Anfang August ist Michela Murgia mit nur 51 Jahren gestorben. Am Tag ihrer Abdankung füllte sich die Piazza di Popolo in Rom mit Menschen: Hunderte Fans harrten stundenlang in der brütenden Sonne aus, lasen aus Murgias Büchern vor, schwenkten Transparente mit Zitaten wie «God Save the Queer». Ein nicht enden wollender Applaus begrüsste den Sarg, der in die Chiesa degli Artisti getragen wurde, wo nur ein Teil der Menge Platz fand. Die meisten blieben draussen und verfolgten die Liveübertragung auf ihren Smartphones.

Unter den tausend Menschen in der Kirche befand sich niemand aus Melonis Regierung, dafür die Vorsitzende des Partito Democratico, Elly Schlein, und der PD-Abgeordnete Alessandro Zan, dessen Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes für LGBTIQ+ seit Jahren vom Senat blockiert wird. In den vordersten Bänken sassen diejenigen, die Murgia ihre «queere Familie» genannt hatte, etwa Ehemann und Regisseur Lorenzo Terenzi, mit dem sie sich noch im Juli «widerwillig» getraut hatte, nicht ohne die Ehe als «patriarchal und limitiert» zu kritisieren und sich für ein «anderes Beziehungsmodell für jene, die sich durch das Leben kämpfen mussten», auszusprechen. Auch vier junge Männer, Murgias «Seelenkinder» – ein Begriff, den sie in ihrem bekanntesten Roman, «Accabadora», prägte –, und engste Freund:innen wie die Schriftstellerin Chiara Valerio und der Autor Roberto Saviano gehören dazu. Familie, die mehr auf Zuneigung und Liebe als auf Blutsverwandtschaft beruht, war zu einem der wichtigsten Themen von Murgias Literatur und ihrem Aktivismus geworden.

Ihr vielseitiges Engagement spiegelte sich auch in den Redner:innen, die sich an eine christliche, feministische Partisanin, Autorin und Freundin erinnerten. Der Priester lobte Murgias offen ausgelebten Glauben: Noch 2022 hatte sie mit «God Save the Queer» einen Essay geschrieben, in dem sie die Möglichkeiten, queerfeministisch und christlich zu sein, reflektierte. Die Delegation des Veteranenverbands der italienischen Partisan:innen hob hervor, wie ihr Mitglied bis zuletzt politisch aktiv geblieben war, etwa indem sie die Community an ihrer Krankheit hatte teilhaben lassen. Für seine Freundin Michela sei Teilen alles gewesen, meint auch Saviano. Sie handelte nach dem Prinzip «Nicht alleine sein, nicht alleine lassen». In seinen schwierigsten Momenten sei sie bei ihm gewesen und habe ihm gesagt: «Hab Vertrauen in die, die lesen und verstehen.»

Viele von diesen zeigten sich an diesem heissen Augusttag auf der Piazza del Popolo und stimmten, als der Sarg aus der Kirche getragen wurde, «Bella ciao» an. Was Michela Murgia ihnen hinterlässt? «Kampf und Widerstand», «grosse Literatur und Kraft», «kritisches Bewusstsein, Sensibilität und eine enorme Liebe, auf der Welt zu sein, ohne Angst».

Michelle Steinbeck ist Autorin.