Sozialdemokratie in Italien: Die geheime Favoritin

Nr. 8 –

Erst im Dezember der Partei beigetreten, kandidiert die Tessinerin Elly Schlein für den Vorsitz des italienischen Partito Democratico – und vertritt damit eine neue, kosmopolitische Linke.

Elly Schlein an einer Wahlveranstaltung am 18. Februar in Rom
Für einen Neuanfang nach dem «Renzi-Trauma»: Elly Schlein an einer Wahlveranstaltung am 18. Februar in Rom.
 
Foto: Alessandra Benedetti, Getty

Wird ihr der Rekord gelingen? Wird Elly Schlein es schaffen, sich am 26. Februar zur Vorsitzenden einer Partei wählen zu lassen, in der sie bis vor wenigen Wochen nicht einmal Mitglied war, in die sie erst im Dezember 2022 eingetreten ist? Einigermassen aberwitzig klingt das Unterfangen der 37-Jährigen aus Bologna, gleichsam aus dem Nichts heraus zur Chefin des Partito Democratico (PD) aufzusteigen und damit die Führung der grössten italienischen Partei links der Mitte zu übernehmen.

Wenigstens sie selbst hegt keinerlei Zweifel an ihrem Erfolg. Ob bei ihrer Rede vor wohl 2000 Anhänger:innen am vergangenen Samstag auf der Piazza im römischen Viertel Testaccio oder in ihren TV-Interviews: Nie benutzt sie das Wort «wenn», immer redet sie zukunftssicher von «sobald», «sobald ich nationale Sekretärin des PD sein werde», als sei die Wahl schon gelaufen, natürlich in ihrem Sinne.

Und wenigstens die erste Hürde, den Wahlgang nur unter den Parteimitgliedern, hat Schlein mühelos genommen, hat sich mit 35 Prozent für die zweite Runde qualifiziert. Zur Ermittlung des oder der Vorsitzenden leistet sich der PD ein kompliziertes Verfahren. Im ersten Wahlgang ist die Zahl der Kandidat:innen unbegrenzt, abstimmen dürfen jedoch nur die eingeschriebenen Mitglieder. In der zweiten Runde treten die beiden Bestplatzierten gegeneinander an – zu einer dann allerdings offenen Urwahl, bei der gegen Entrichtung eines bescheidenen Obolus von zwei Euro alle Bürger:innen ab sechzehn Jahren inklusive der im Land ansässigen Ausländer:innen ihr Votum abgeben können, egal ob sie Mitglied des PD sind oder nicht.

Die erste Runde endete am 19. Februar. Der PD gab bekannt, dass bis zum 17. Februar 151 530 Mitglieder in den Ortsvereinen ihre Stimme abgegeben hätten. Wie erwartet setzte sich Stefano Bonaccini, alter Parteisoldat und seit 2014 Präsident der Region Emilia-Romagna, mit 53 Prozent klar durch.

Keinerlei Parteilaufbahn

Weit weniger erwartet waren dagegen die 35 Prozent für Elly Schlein. Denn Schlein, die mit einer kleinen linken Liste bei den Regionalwahlen 2020 kandidiert und an der Seite Bonaccinis als Vizepräsidentin bis zu ihrer Wahl als nationale Abgeordnete im September 2022 die Emilia-Romagna regiert hatte, hatte keinerlei Parteilaufbahn hinter sich, brachte keinen Stallgeruch mit. Sie, die nicht einmal als Vorsitzende oder als Kassiererin im PD-Ortsverein amtiert hatte, konnte immerhin ein gutes Drittel der Mitglieder für sich begeistern, während ihr die meisten Umfragen im Vorfeld 20 bis 25 Prozent prognostiziert hatten.

Damit treten jetzt in der zweiten Wahlrunde zwei Kandidat:innen gegeneinander an, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Bonaccini, der Favorit, ist ebenso tief in seiner Partei wie in seiner Heimatregion verwurzelt. Der Mittfünfziger, Sohn eines Lkw-Fahrers und einer Arbeiterin aus der Provinz Modena in der Emilia-Romagna, der Herzkammer der italienischen Linken, begann als Zwanzigjähriger seine politische Karriere noch in der Kommunistischen Partei, machte deren Häutungen erst zur Demokratischen Linken, dann zum Partito Democratico mit, erklomm die Leiter sowohl in der Partei als auch in den Institutionen, vom Stadtrat in Modena zum Präsidenten der Region.

Völlig anders präsentiert sich Elly Schlein, die neben dem italienischen auch den Schweizer und den US-Pass besitzt. Geradezu paradigmatisch macht ihre Biografie sie zur Vertreterin einer neuen, kosmopolitischen Linken. Geboren und aufgewachsen ist sie in Lugano, als Tochter einer Juraprofessorin aus Siena und eines US-amerikanischen Professors für Politikwissenschaften, der wiederum Sohn des aus der Gegend von Lwiw nach Amerika emigrierten Juden Herschel Schleyen war.

Vorbild: «Yes, we can!»

Mit achtzehn Jahren ging Schlein zum Jurastudium nach Bologna – und wurde dort schnell politisch aktiv. Allerdings war der Ort ihrer Aktivitäten nicht «die Partei». Stattdessen gründete sie mit Mitstreiter:innen die Vereinigung Progrè, die die Rechte der Migrant:innen ebenso wie die Situation in den italienischen Gefängnissen zu ihren Themen machte, und engagierte sich als Studierendenvertreterin.

2008 begab sich die damals 23-Jährige für einige Monate nach Chicago, der Heimatstadt Barack Obamas, um sich als Basisaktivistin in dessen Präsidentschaftswahlkampf einzubringen. Mehrere Dinge hat sie sich damals wohl abgeschaut. «Yes, we can»: Auch Schlein benutzt konsequent das Wir, vom Motto ihrer Kampagne für den PD-Vorsitz «Parte da noi» (Von uns geht es aus) bis zu allen ihren Reden, in denen sie geradezu obsessiv beschwört, nicht das egomanische Ich eines starken Mannes oder einer starken Frau sei gefragt, sondern das Wir der Basis.

Bei Obama abgeschaut hat sie sich aber auch, dass es darum gehen muss, «Personen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und mit diversen Wurzeln, die aus ebenso unterschiedlichen Gründen dabei waren», zusammenzubringen, wie es in ihrem Buch «La nostra parte» heisst. Und schliesslich hat sie auch ein ausgeprägtes Gespür für erfolgreiche Kampagnen mitgenommen.

Gleich ihre erste grosse Kampagne machte Schlein über Bologna hinaus bekannt. 2013 hatten diverse PD-Abgeordnete nach einer schweren Schlappe bei den Parlamentswahlen bei der Wahl des Staatspräsidenten gegen ihren eigenen Kandidaten, Romano Prodi, gestimmt. Schlein und zahlreiche Mitstreiter:innen organisierten daraufhin die Kampagne #OccupyPD, besetzten Parteilokale und forderten von der Führung, auf die von ihr angesteuerten Kompromisse mit der Berlusconi-Rechten bei der Wahl des Staatspräsidenten ebenso wie bei der Regierungsbildung zu verzichten.

Gegen den neoliberalen Kurs

Doch ein anderer setzte sich damals innerhalb des PD durch: Matteo Renzi, Ende 2013 zum Parteichef gewählt, ab Februar 2014 Ministerpräsident. Schlein wiederum wurde 2014 vom PD als Kandidatin fürs Europaparlament aufgestellt – und schaffte es, mit 54 000 Präferenzstimmen aus dem Stand gewählt zu werden. Doch schon 2015 war es mit ihrer PD-Mitgliedschaft wieder vorbei: Aus Protest gegen Renzis neoliberalen Kurs, aus Protest vor allem gegen seine Arbeitsmarktreformen, die prekäre Arbeitsverträge erleichterten und den Kündigungsschutz lockerten, trat sie aus der Partei aus.

Und in gewisser Weise ist ihre jetzige Kandidatur auch die Antwort auf das Renzi-Trauma des PD. Er hatte die Partei bei den Europawahlen von 2014 auf 40 Prozent hochgezogen, ihr dann aber auch den Absturz auf 18,7 Prozent bei den nationalen Parlamentswahlen von 2018 beschert – und den PD zu einer Partei gemacht, in der sich die alte soziale Basis nicht mehr wiederfindet. Heute wählen rund fünfzig Prozent der Arbeiter:innen die Rechtsparteien, weitere zwanzig Prozent die Fünf Sterne, jedoch nur noch zehn Prozent die «democratici».

Klar links müsse sich der PD heute wieder aufstellen, er dürfe sich nicht scheuen, offensiv für die Rechte der prekär Beschäftigten einzutreten, für die Verteidigung des öffentlichen Gesundheits- und Schulwesens, für die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, fordert Schlein. Und zum Beispiel in Rom, bei ihrem Auftritt in dem trendigen Lokal Vinile, bejubeln Hunderte Anhänger:innen ihre Worte. Auch ihnen versucht die Kandidatin ihr Wir deutlich zu machen: Ehe sie zu Wort kommt, reden erst einmal zehn Unterstützer:innen, keine:r von ihnen älter als dreissig, von der Gymnasiastin über die Unistudentin bis zu einem prekär im Logistikbereich Beschäftigten.

Sie reden wie die Kandidatin auch ausführlich über andere Themen. Soziale und Klimagerechtigkeit gingen Hand in Hand, verkündet Schlein, und soziale Rechte liessen sich nicht von Bürgerrechten trennen, ob es nun die Rechte der Migrant:innen seien oder die der LGBTIQ-Community. Über ihr Privatleben hat sie nie etwas preisgegeben ausser der Tatsache, dass sie «eine andere Frau liebt».

Eine Schwierigkeit allerdings hat die Aussenseiterin – oder auch Geheimfavoritin. Schlein hat mit Bonaccini einen Gegner, der in den letzten Monaten ebenfalls sein linkes Profil neu geschärft hat und in fast allen Punkten von ihr programmatisch kaum zu unterscheiden ist. Ein grosses Manko jedoch bringt ihr Gegenspieler mit: Er hatte treu an Renzis Seite gestanden, hatte 2013 dessen Kampagne zur Wahl des PD-Vorsitzenden koordiniert. Nein, so ein «sicheres Gebrauchtmodell» brauche der PD nicht, stichelt Schlein – der echte Neuanfang, glaubt sie, geht nur mit ihr.

Nachtrag vom 2. März 2023 : Von Südtirol bis Sizilien – sensationell, spektakulär!

Elly Schlein ist der Überraschungscoup gelungen. Am Sonntag setzte sie sich als neue Vorsitzende des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) durch. In der offenen Urwahl, an der nicht nur Mitglieder der Partei teilnehmen konnten, erhielt sie 53,75 Prozent der Stimmen, während der klare Favorit Stefano Bonaccini, der Präsident der Region Emilia-Romagna, bei 46,25 Prozent hängen blieb.

Von Südtirol bis Sizilien gaben knapp 1,1 Millionen Menschen ihre Stimme ab, und Elly Schlein lag richtig mit ihrer Vorhersage: Wenn die Millionengrenze überschritten werde, sei ihr der Sieg sicher. Vor allem ein urbanes Publikum stimmte für die 37-Jährige, die in den Grossstädten, in Rom, Mailand, Turin, Genua oder auch Palermo, mit Resultaten von rund siebzig Prozent wahre Kantersiege feierte.

Sensationell, spektakulär nannten die italienischen Medien einhellig das Ergebnis. Schliesslich setzte sich mit Schlein die krasse Aussenseiterin gegen Bonaccini durch, den alten Fahrensmann der Partei. Sie hatte zwar im Europaparlament gesessen, war von 2020 bis 2022 unter Bonaccini Vizepräsidentin der Region Emilia-Romagna und wurde bei den Parlamentswahlen im September zur Abgeordneten gewählt. Doch sie hatte nicht einmal das Parteibuch des PD und trat erst im Dezember 2022 der Partei bei – um dann gleich Vorsitzende werden zu wollen.

Das ist ihr gelungen, mit einer klar links ausgerichteten Kampagne, in der soziale ebenso wie Bürger:innenrechte im Mittelpunkt standen und in der sie forderte, der PD müsse zur «feministischen und ökologischen Partei» werden.

Die Mehrheit der Anhänger:innen überzeugte das – doch zugleich stellten sie damit das Mitgliedervotum auf den Kopf: Noch im ersten, am 19. Februar abgeschlossenen, rein parteiinternen Wahlgang hatte Bonaccini knapp 53 Prozent erhalten, gegen Schleins 35 Prozent. «Maximale Einheit» verspricht Schlein deshalb jetzt, um auch die eher zur politischen Mitte orientierten Kräfte im PD an Bord zu halten.