Im Affekt: Und ewig grüsst Olimpia
Eigentlich wissen mittlerweile alle, wie die Sprach-KI Chat GPT funktioniert: Sie baut Sätze nach dem Prinzip der statistischen Wahrscheinlichkeit und greift dazu auf das im September 2021 online verfügbare Wissen zurück. Natürlich ist das im Detail mathematisch hochkomplex und maschinelles Lernen dem menschlichen Gehirn quantitativ weit überlegen. Das ist beeindruckend und beängstigend zugleich. Ebenso bemerkenswert wie beunruhigend ist aber auch, wie angesichts dessen insbesondere Intellektuelle reihenweise von romantischem Schauer ergriffen werden. Sie schreiben über Chat GPT, als sässen sie Olimpia aus E. T. A. Hoffmanns «Sandmann» gegenüber.
Wie jüngst in einem Gastbeitrag in der NZZ: Von Chat GPT als einem, der «denkt», ist da die Rede, er habe «eine eigene Meinung», «eine eigene Sicht auf die Welt», ja gar eine «Moral». Wenn auch eine «amerikanisch geprägte». Das schliesst der Autor aus einer australischen Studie, für die der KI der Auftrag erteilt wurde, einen Entwurf für schärfere Waffengesetze zusammenzufassen. Zurück kam die Aufforderung, sich gegen diesen Angriff auf das Recht zur Selbstverteidigung zu wehren. Ein offenkundiger Rückgriff auf das berüchtigte zweite Amendment der US-Verfassung von 1791, zitiert in zahllosen rechtslibertären Foren und damit für die KI statistisch relevant. Das kann man als kulturimperialistisch geisseln, wie der NZZ-Autor es tut – aber darob gleich in moralische Panik verfallen und Chat GPT als einen «Tsunami» bezeichnen, der «mit neuer Wucht die Klärung universell gültiger Werte» einfordere, zumal am Horizont bereits die «Artificial General Intelligence» lauere?
Dieses Raunen vom Moment der Singularität: Man glaubt, den romantischen Schauer zu spüren, der uns beschleichen soll. Dabei wäre es gerade dringend, sich auf einen wichtigen universellen Wert zu konzentrieren: das kritische Denken. Es dürfte zur Erkenntnis führen, dass der weitaus bedrohlichere Tsunami von den menschlichen Machtgelüsten der Konzernchefs hinter Chat GPT und Co. ausgeht.
Das ist übrigens auch E. T. A. Hoffmanns ganz unromantische Botschaft: Lasst euch keinen Sand in die Augen streuen!