Proteste in Syrien: Die Mauer der Angst ist zerbrochen
Zu gross ist die Wut über die aussichtslose Wirtschaftslage: Zwölf Jahre nach der Revolution gehen die Syrer:innen wieder gegen das Assad-Regime auf die Strasse.

Am Montag, dem ersten Tag des Streiks, um acht Uhr morgens schleicht die Angst durch die Strassen in der südsyrischen Stadt al-Suwaida. In den sozialen Medien kursieren Spekulationen: Wird der Streik erfolgreich sein? Oder wird ihn das Regime niederschlagen wie die letzten Male?
Die Streikaufrufe kamen als Reaktion auf die Streichung der Treibstoffsubventionen. Der Benzinpreis hatte sich in der Folge verdreifacht, jener des Diesels vervierfacht. Das liess die Mauer der Angst zerbrechen. Aktivist:innen riefen dazu auf, sich auf den Plätzen zu versammeln, die Proteste und Streiks sollten sofort beginnen. Es half nichts, dass das Regime gleichzeitig die Löhne der Staatsangestellten verdoppelte, die angesichts der Inflation dennoch kaum etwas wert sind.
Kernbotschaft der Propaganda
Zwölf Jahre nach der Revolution von 2011, die im Zuge des Arabischen Frühlings ein Ende des Regimes von Baschar al-Assad forderte, sind in Syrien in diesen Tagen wieder Hunderte Menschen auf den Strassen. Vor allem in der Provinz Suwaida demonstrieren sie seit rund zehn Tagen. Das ist bemerkenswert, steht die Region im Süden des Landes doch unter Kontrolle des Regimes. Dieses liess die Proteste 2011 mit Gewalt niederschlagen und stürzte das Land in einen langen Krieg. Doch die Wut über die aussichtslose Wirtschaftslage ist offenbar so gross, dass die Angst vor dem Regime diese Wut nicht mehr in Schach zu halten vermag.
In al-Suwaida leben vorwiegend Angehörige der drusischen Minderheit, einer religiösen Abspaltung des Islam. Die drusische Führung hatte im Krieg versucht, sich neutral zu verhalten. Viele der Drusen gingen nicht zum Armeedienst, der eigentlich obligatorisch ist – und schlossen sich stattdessen lokalen Gruppen an, die sich zur Verteidigung ihrer Region gebildet hatten.
Das Regime liess sie gewähren, schliesslich ist der vermeintliche Schutz von Minderheiten eine Kernbotschaft seiner Propaganda – während es seine eigene Gewalt gegen friedliche Aufstände aus der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung als Kampf gegen islamistischen Terror rechtfertigte. Die aktuellen Demonstrationen jedoch zeigen, wie wenig Rückhalt das Regime innerhalb der Bevölkerung noch hat. Den Demonstrationen in al-Suwaida sind weitere in der südlichen Stadt Daraa gefolgt sowie in Teilen des Landes, die von Oppositionsgruppen kontrolliert werden. Selbst von der Küstenregion, dem Kernland des Assad-Regimes, sind Videos aufgetaucht, in denen Leute das Ende der Herrschaft Assads fordern.
Menschenketten und Lieder
An jenem Montag, dem ersten Streiktag – noch bevor die Angestellten zur Arbeit fahren –, blockieren junge Demonstrierende die Strassen. Schon bald kursiert eine Audioaufnahme vom Vorsitzenden des lokalen Büros der Baath-Partei, der auf dem Weg zur Arbeit von den Protestierenden aufgehalten worden ist. Sie zeigt, wie unzufrieden die Menschen sind: «Wir haben keine Angst mehr vor euch, die Wand der Angst ist zerbrochen. Seid ihr hungrig?», fragt ein Protestierender den Parteifunktionär – und antwortet gleich selbst: «Nein, ihr seid nicht hungrig, wir sind hungrig! Ihr werdet satt auf unsere Rechnung, ihr gebt uns nichts. Warum solltet ihr auf euren Posten bleiben?»
Auch die Handelskammer sowie die Berufsverbände der Anwält:innen und Ingenieur:innen unterstützten den Streik. Und so sind die Strassen an diesem Montag verlassen – bis auf die Schritte hier und da, die sich Richtung Demonstration im Stadtzentrum bewegen.
Irgendwo überqueren drei junge Männer eine Nebenstrasse, die zum Stadtzentrum führt. Sie sind in ihren frühen Zwanzigern; aus jener Generation, die über die Hälfte ihres Lebens im Krieg gelebt hat. Der Mittlere von ihnen hebt die Hand und grüsst einen alten Mann, der auf einem Balkon steht. Mit lauter Stimme ruft er: «Onkel, warum kommst du nicht mit uns zum Sit-in?»
Der Mann lächelt ein zahnloses Lächeln. «Seid vorsichtig», sagt er. «Nicht dass euch die Sicherheitskräfte verhaften wie jedes Mal.»
Die Angst, die die Älteren beherrscht, hat das syrische Regime nach der Machtübernahme 1970 durch Assads Vater, Hafis al-Assad, über die syrische Bevölkerung gelegt. Sie wird derzeit durch den Enthusiasmus der Jugend sukzessive aufgehoben. Und so antwortet der junge Mann dem Älteren: «Wie lange sollen wir noch Angst haben?»
Auf dem zentralen Karama-Platz treffen die ersten Menschen ein. Einige tragen Hüte und Sonnenbrillen, um von den Geheimdienstmitarbeitern, die sich unter die Menge mischen, nicht erkannt zu werden. Ein Mädchen mit ein paar Bannern unter dem Arm geht vorbei. Eine Gruppe Frauen bleibt in der Nähe der Menge stehen und wartet darauf, dass es losgeht.
Dann beginnen die Aktivist:innen, die Reihen zu schliessen. Sie formen eine Menschenkette, beginnen, traditionelle Lieder zu singen, über den Kampf der Menschen in al-Suwaida gegen Kolonialismus und Tyrannei. Der Platz ist erfüllt von Gesängen, mehr Leute nähern sich; die Angst verfliegt, die einzelnen Gruppen rücken näher zusammen.
«Eine Hand, eine Hand», ertönt es. Eine Aufforderung an jene, die noch vom Rand her zuschauen, sich anzuschliessen. Am Anfang sind die Forderungen unspezifisch: «Nieder mit der Korruption» oder «Gott, Freiheit, Syrien und fertig» – in Anspielung auf jenen berüchtigten Satz aus der Propaganda des Regimes: «Gott, Syrien, Baschar und fertig». Dann werden die Stimmen lauter, und wie aus einem Mund füllen sie den Platz: «Das Volk will den Sturz des Regimes.»
Es ist der bekannteste Satz aus den Revolten, die 2011 durch die Region fegten und in mehreren Ländern die Machthaber stürzten. In keinem Land wurden die Hoffnungen derart brutal vom Regime niedergeschlagen wie in Syrien. Die Proteste, die nun ausgerechnet hier wiederaufflammen, zeigen, dass die Probleme, die damals zu den Revolten führten, nicht gelöst sind und dass der Kampf gegen das Unrecht nicht dauerhaft unterdrückt werden kann.
Die Demonstrierenden holen nun Schilder hervor, die sie unter Kleidern versteckt hielten – aus Angst, bereits auf dem Weg zum Platz abgefangen zu werden. Auf einem steht: «Freiheit für Firas al-Aridi.» Usama, 34 Jahre alt, sagt, dass sein Freund seit sieben Jahren im Gefängnis sitze, weil er friedlich demonstriert habe. «Ich sehe mich als die Stimme seiner Familie», sagt er mit Tränen in den Augen. Weil Usama für seinen Freund einsteht, wurde sein Konto eingefroren.
Ein anderer junger Mann hält ein Banner in die Höhe, auf dem steht: «Ich will mein Land nicht verlassen, ihr müsst gehen.» Mit «ihr» meint er das Regime. Der Satz spiegelt das weitverbreitete Gefühl, die Hoffnung verloren zu haben, mit dem korrupten Regime im gleichen Land leben zu können. Jene Gruppe von Menschen, die gegen die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage demonstriert, ist der Treiber der neuen Protestwelle.
Erhoffter Wandel
Inzwischen dauern die Proteste seit fast zwei Wochen an. Die anfängliche Atmosphäre der Angst ist verschwunden. Die Büros der Baath-Partei in al-Suwaida sind noch immer geschlossen. Die Sabotageversuche des Regimes beschränken sich im Moment darauf, die Stromversorgung zu unterbrechen, damit die Demonstrierenden nicht per Internet kommunizieren können.
Inzwischen haben sich auch die lokalen Milizen und die religiösen Würdenträger hinter die Proteste gestellt. Das zeigt, wie breit die Unzufriedenheit über die aktuelle Situation ist. Auch die Slogans auf den Bannern werden expliziter. Verlangt wird etwa die Umsetzung der Uno-Resolution 2254, die einen Übergang zu einer frei gewählten Regierung fordert.
Bis jetzt war das Regime nicht in der Lage, gegen die Proteste vorzugehen. Zum einen kann es sich nicht erlauben, gegen eine religiöse Minderheit mit gleicher Brutalität vorzugehen wie gegen andere Gruppen, ohne sein eigenes Narrativ vom Beschützer dieser Minderheiten zu untergraben. Zum anderen ist das Regime damit beschäftigt, seine Präsenz in Damaskus und an der syrischen Küste zu verstärken. Es hat Angst, dass sich die Demonstrationen ausbreiten.
Wie es weitergeht, ist unklar. Bis jetzt herrscht Freude und Hoffnung auf einen Wandel. «Unsere Botschaft ist klar», sagt Karam Munther, einer der Organisatoren der Proteste. «Wir wollen einen politischen Übergang. Wir wollen dieses Land nicht verlassen, auch wenn sie uns von allen Seiten umzingeln sollten.»
Mitarbeit und Übersetzung aus dem Arabischen: Meret Michel.
Karam Mansur ist ein Pseudonym. Der Autor lebt in Syrien und schreibt zu seiner Sicherheit unter diesem Namen.