Rassismus in Finnland: Geschlossene Gesellschaft
Dass Finnland ein Rassismusproblem hat, ist seit einigen Jahren bekannt. Mit der neuen Regierung aus Konservativen und den rechtsextremen Wahren Finnen verschlimmert sich die Situation für Migrant:innen noch einmal drastisch.
Abdelhadi Najih stellt sich im «St. Urho’s Pub», einem Lokal in der Innenstadt von Helsinki, als marokkanisch-berberisch vor. Er trägt lange braune Locken, ein buntes Hemd und hat ein einnehmendes, herzliches Lachen. Wenn er nach der Bierflasche greift, klirren die breiten silbernen Ringe an seinen Fingern am Glas.
Najih erzählt seine Geschichte, die für viele finnische Migrationsgeschichten stehen könnte, gestenreich und pointiert. Einerseits sind da teilweise hochprofessionalisierte Arbeitskräfte, die das nordische Land eigentlich dringend braucht, und andererseits die soziale Kälte vieler Finn:innen.
«Als ich zum Studieren hier ankam, war ich überwältigt», sagt Najih. «Davor hatte ich mein Heimatland Marokko nie verlassen – alles, was ich über den Westen wusste, hatte ich auf Youtube gelernt.» Finnland habe ihn ziemlich eingenommen mit seiner funktionierenden Bürokratie, der fortgeschrittenen Digitalisierung und den ausgebauten Arbeiter:innenrechten. Das positive Bild habe sich allerdings rasch getrübt.
Als Softwareberater sieht sich Najih als privilegiert an, über Diskriminierung und Ausgrenzung kann er dennoch viele Geschichten erzählen. «Finnland pflegt immer noch dieses Image von Offenheit und Antirassismus, aber ein tieferer Blick enthüllt die Widersprüche», sagt er. Seine erste negative Erfahrung habe er mit einem Vermieter gemacht. «Er wollte eine Empfehlung meines vorherigen Vermieters, weil er mit anderen Marokkanern negative Erfahrungen gemacht habe – ich war baff.»
Trost im verlotterten Einkaufszentrum
Kaum fünfzehn Minuten vom «St. Urho’s Pub» entfernt, mit der Metro ostwärts, verändert sich das Stadtbild schlagartig. Statt Jugendstilgebäuden stehen schlichte Wohnblöcke aus den siebziger Jahren auf den eiszeitlichen Gesteinsformationen. Im Bezirk Itäkeskus haben 38 Prozent der Menschen eine Migrationsgeschichte – einer der höchsten Anteile in der Stadt.
Unweit der Metrostation liegt das Einkaufszentrum Puhos, 1965 erbaut, mit einem charakteristischen, offenen Rondell in der Gebäudemitte und abbröckelndem Putz an der Aussenfassade. Die Rolltreppe funktioniert nur noch gelegentlich. Rund um die Pfeiler des Rondells liegen Läden, die man in anderen Stadtteilen kaum findet: somalisprachige Reisebüros, kurdische Grillrestaurants, Baklavabäckereien oder muslimische Gebetsräume.
Itäkeskus ist für viele Migrant:innen ein Ort des Rückzugs und der Begegnung. Abdelhadi Najih etwa kommt hierher, um im türkischen Supermarkt Speisen zu kaufen, die es in ganz Helsinki kaum sonst wo gibt. Ein wenig Trost in Geschmäckern und Gerüchen, die an die eigene Kindheit erinnern, finden hier viele, wenn der Alltag schwer zu ertragen ist. «Über die letzten Jahre habe ich so viele unangenehme Erfahrungen gemacht: verbal und auch an der Grenze zu physischen Attacken, sodass ich manchmal sogar die Polizei rufen musste», erzählt der IT-Spezialist.
Dass Finnland ein Rassismusproblem hat, wurde schon 2018 in einer Untersuchung der EU-Agentur für Menschenrechte deutlich. Fast ein Drittel der befragten Menschen mit afrikanischer Herkunft in allen EU-Staaten gaben damals an, in den letzten fünf Jahren rassistisch motivierte Belästigung erlebt zu haben. In Finnland lag der Wert bei 63 Prozent.
In den Erzählungen der rechtsextremen Wahren Finnen (Perussuomalaiset, PS) ist Itäkeskus ein real gewordener Albtraum der Migrationsgesellschaft. In Wahlkampagnen oder den sozialen Medien, die die PS wesentlich erfolgreicher bespielen als andere Parteien, wird der Stadtteil als Negativbeispiel präsentiert. Das Credo lautet: «Wählt uns, damit Finnland nicht bald überall so aussieht wie dort.» 20,1 Prozent der Stimmen konnten die PS bei den Parlamentswahlen im April gewinnen – mit antimuslimischer Bildsprache, dem Kulturkampf gegen die «Links-Grünen» und dem Versprechen, die Benzinpreise zu senken. Am meisten wählten Männer mittleren Alters die rechtsextreme Partei.
Petteri Orpo, der Vorsitzende der konservativen Sammlungspartei (KOK) und neuer Ministerpräsident, hat sich im Juni auf ein Bündnis mit den PS eingelassen. Nun steht er vor der Frage, wie mit einem Koalitionspartner umzugehen ist, der sich kaum zügeln lässt. Nach nur elf Tagen musste der erste PS-Minister seinen Hut nehmen: Vilhelm Junnila, zuständig fürs Wirtschaftsdepartement, hatte in der Vergangenheit auf einer Neonazidemo eine Rede gehalten, mit rechtsextremer Symbolik gezündelt und mit seiner Kandidatennummer 88 (= HH, Heil Hitler) geprahlt.
Im Juli herrscht in Finnland traditionellerweise eine Art sommerlicher politischer Waffenstillstand – viele Finn:innen sind in ihren Sommerhäusern auf dem Land, das Parlament tagt erst wieder Anfang September. Dass dieser Juli von Skandalen der neuen PS-Minister:innen überschattet wurde, zeugt von einer gespaltenen politischen Landschaft. Nach rassistischen Blogeinträgen und entsprechenden Nachrichten auf Social Media sind inzwischen weitere Skandale zum Vorschein gekommen: Die Innenministerin teilte Verschwörungsmythen, und die Finanzministerin und PS-Vorsitzende bezeichnete muslimische Frauen als «schwarze Säcke», die kaum als menschlich erkennbar seien.
Wie tief der Rassismus in der Gesellschaft verankert ist und was noch im Rahmen der Meinungsfreiheit liegen könnte, beschäftigt das Land nunmehr seit Monaten. In einer repräsentativen Umfrage der Zeitung «Helsingin Sanomat» von Anfang August gaben 60 Prozent der Befragten an, Rassismus sei in Finnland «stark sichtbar», 25 Prozent dagegen befanden, es gebe «fast gar keinen» oder «gar keinen» Rassismus.
Gezielte Ausgrenzung
Ditmar Hasanaj (29) wartet darauf, dass seine in Albanien absolvierte juristische Ausbildung in Finnland endlich anerkannt wird. Ende August spricht er in weissem Hemd und Kakihose auf einer Kundgebung von migrantischen Verbänden vor den Stufen des Parlaments. Auch er ist über das Verhalten der neuen Regierung entsetzt: «Es macht mich wütend zu sehen, was für eine Sprache manche Politiker:innen pflegen.» Er frage sich, ob er in Finnland wirklich eine Familie gründen wolle.
Hasanaj stören neben der Rhetorik auch die geplanten Reformen der Regierung: «Die vorgeschlagenen Gesetze zielen auf alle, egal ob Geflüchtete, Studierende oder Arbeitsmigrant:innen. Zusammen mit den Liberalisierungen des Arbeitsmarkts wird die Situation für viele unsicherer.» Schon jetzt würden Bekannte von ihm überlegen, das Land zu verlassen.
Im Programm von Orpos rechter Regierungskoalition sind zudem massive Kürzungen im Sozial- und im Gesundheitssektor vorgesehen. Gleichzeitig sollen Aufenthaltsbestimmungen und Staatsbürgerschaftsregelungen verschärft werden: So etwa will ein Vorstoss Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis den Zugang zu kostenloser ärztlicher Betreuung erschweren.
Wie vielen Migrant:innen stossen solche Vorhaben auch Abdelhadi Najih auf: «Wir Nicht-EU-Ausländer stellen gerade einmal vier Prozent der Bevölkerung – und werden dennoch unverhältnismässig verleumdet.» Irgendwann werde Finnland vielleicht seine diverse Bevölkerung ernsthaft schätzen lernen. «Ich bin mir aber nicht sicher, ob das in einem Zeitfenster geschieht, von dem die heutigen Migrant:innen noch profitieren können.» Auch er spielt mit dem Gedanken, dem hohen Norden den Rücken zu kehren.