Ein Traum der Welt: Minimale Menschlichkeit

Nr. 4 –

Annette Hug hört der Präsidentin des IKRK zu

«Hört auf, Gaza zu bombardieren. Lasst die Geiseln endlich frei.» Das hier hinzuschreiben, ist eine ohnmächtige Geste. Im Hinterkopf lauert ein Wissen, das Mirjana Spoljaric Egger am 14. Januar in der Fernsehsendung «Sternstunde Philosophie» ausspricht: Im Moment führen bewaffnete Parteien weltweit rund hundert Konflikte.

Die Präsidentin des IKRK erzählt von der Hilflosigkeit, die sie im letzten September an der Grenze zwischen dem Sudan und dem Tschad erfahren hat. Hunderttausende von Flüchtlingen kamen aus dem neu aufgeflammten Krieg im Sudan, aus der Provinz Darfur, und es fehlte an allem. Das IKRK muss dieses Jahr wegen Geldmangel ein Fünftel der Stellen streichen.

Das «Sternstunde»-Gespräch mit Mirjana Spoljaric Egger erlaubt es, einen Moment lang aus der Gegenwart auszutreten, gerade weil die Diplomatin auch von ihrer Verhandlungsrolle bei der Freilassung einer ersten Gruppe von israelischen Geiseln spricht. Sie beweist, dass es Leute gibt, die wirklich etwas tun können. Dabei ist es immer noch ungewöhnlich, dass mir das eine Frau beweist.

Lange erschien die Schweizer Aussenpolitik, zu der ich das IKRK indirekt zähle, absolut unzugänglich. Bis 1972 mussten Frauen unverheiratet sein, um überhaupt dafür infrage zu kommen. Erst 1955 war ein Zulassungssystem mit klaren Regeln eingeführt worden, ein offizieller Concours. Davor hatte der Bund seine Diplomaten «aus den grossen Schweizer Familien rekrutiert», wie der Historiker Sacha Zala schreibt. Ein Grund, mich in den frühen neunziger Jahren im Verein «Frauenrat für Aussenpolitik» zu engagieren, war der Eindruck, dass die Schweiz international noch immer nicht als Demokratie auftrat, sondern als staatlicher Arm gut vernetzter Clans, die ihre wirtschaftlichen Interessen mit denen des Landes gleichsetzten.

Mirjana Spoljaric Egger ist 1972 im heutigen Kroatien geboren und kam als Kind in die Schweiz. In Basel und Genf studierte sie Philosophie, Völkerrecht und Wirtschaft. Nach verschiedenen Tätigkeiten im diplomatischen Dienst und bei der Uno wurde sie im Oktober 2022 zur Präsidentin des IKRK gewählt. Wenn sie jetzt die Neutralität dieser Institution verteidigt, klingt das nicht nach helvetischer Sonntagsrede. Es geht um ein Minimum an Menschlichkeit, zu dem sich alle Nationen mit den Genfer Konventionen verpflichtet haben. Noch in den schlimmsten Situationen soll ein Boden für künftige politische Lösungen erhalten bleiben.

Die Idee, man könne mit militärischen Mitteln Sicherheit herstellen, sieht Spoljaric Egger als Grundübel, das sich bedrohlich ausbreitet. Daran gekoppelt scheint die Vorstellung von Politik als Kampf zwischen Freund und Feind, den es um jeden Preis zu gewinnen gilt. Die «Sternstunde» macht glaubhaft, dass das Aufrechterhalten der Trinkwasserversorgung in Syrien mit der Möglichkeit einer anderen Politik und eines gerechten Friedens verbunden ist.

Bei der Frage, ob ihr «Frausein» eine Rolle spiele, lächelt Spoljaric Egger leicht bemüht, sagt aber Ja. In kriegerischen Konflikten seien Frauen anders betroffen. Dass ihre spezifischen Situationen überhaupt wahrgenommen würden, sei ein Schritt hin zur Unparteilichkeit. Und dass das heute eine IKRK-Präsidentin sagt, verschafft mir einen Moment der Hoffnung.

Annette Hug ist Autorin in Zürich.