Im Affekt: Gute Worte, böses Geschrei?
Laute Zwischenrufer:innen unterbrachen die Rede des deutschen Bundeskanzlers zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse. Sie schrien «Genozid» und gaben Deutschland eine Mitschuld an den vielen Getöteten in Gaza. Olaf Scholz, zuerst gefasst, bald genervt, konterte in gestrenger Schulmeistermanier: «Hört auf zu brüllen! Schluss!» Schliesslich wurden die Protestierenden aus dem Saal geführt, begleitet von Scholz’ salbungsvollen Worten: «Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Worts zusammen, nicht die Macht des Geschreis.»
Erst der letzte Redner des langen Eröffnungsabends hinterfragte die schlichte Gegenüberstellung des Kanzlers: unser aller gutes Wort gegen das böse Geschrei der Zwischenrufer:innen. Der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm erhielt den Buchpreis zur Europäischen Verständigung für sein Buch «Radikaler Universalismus». Spontan ergänzte er seine Dankesrede, um auf die Störungen einzugehen. Es war ein beherzter Crashkurs im Denken der Aufklärung und in Ambivalenz.
Freie Rede und öffentliche Diskussionen seien wesentliche und keineswegs selbstverständliche Stützen der Vernunft, sagte Boehm. Manchmal dienten sie aber auch als Maske, um einen Status quo zu erhalten, der eigentlich verändert werden müsste. Den Universalismus zu verteidigen, bedeute, dass auch die Zwischenrufer:innen sprechen dürften; dass man ihnen zuhören müsse. Man brauche nicht mit ihnen einverstanden zu sein, um ihr Recht auf Störung zu verteidigen; die Unterbrechung – die er falsch finde – sei ein Statement zum herrschenden Diskurs.
Das war nicht so schwierig zu verstehen, aber anscheinend zu komplex für einige deutschsprachige Medien, die in ihren Berichten zur Eröffnung nur denjenigen Teil von Boehms Ausführungen erwähnten, der ihnen ins Weltbild passte: Boehm habe die Zwischenrufer:innen verurteilt. Die entscheidenden Wahrheiten gehen womöglich nicht im Geschrei unter, sondern in einer selektiven Wahrnehmung.
Den offiziellen Teil von Boehms Dankesrede über die «Brüderlichkeit der Privilegierten» und eine «verdunkelte» Öffentlichkeit gibts hier: www.leipzig.de.