Ein Traum der Welt: Verspätete Post aus China
Annette Hug liest Briefe von Kafka
Aus Schanghai schrieb im Januar eine Bekannte, dass meine Neujahrskarte für 2024 zusammen mit jener für 2020 ausgeliefert worden sei. Die ältere Karte hatten wir für verschollen gehalten. In den ersten Monaten des Jahres 2020 war die chinesische Post nämlich vom Verdacht besessen gewesen, Briefe und Pakete könnten das Coronavirus mit sich führen.
Dass ein Postamt in Schanghai in der Lage ist, eine Sendung vier Jahre lang so zu lagern, dass sie nachträglich richtig zugestellt wird, steht einer schlechten Nachricht entgegen: Die Schweizer Post hat kürzlich die Idee eines Expertenberichts ventiliert, die Briefzustellung auf dreimal die Woche zu reduzieren. Dann müsste man Briefe als Eilpakete aufgeben, um auch nur annähernd in einen Rhythmus zu kommen, wie er zwischen Franz Kafka und Felice Bauer üblich war.
1912 lebte er in Prag und sie in Berlin. Die Post wurde an beiden Orten dreimal täglich ausgetragen. Sie schrieben sich also im Takt von E-Mails, nur dass sich die Nachrichten stets kreuzten und gefühlt ein Drittel der Korrespondenz für entwirrende Nachträge und Klagen über säumige Postboten draufging. Im Notfall half ein klärendes Telegramm. Leider sind nur Kafkas Briefe erhalten, Felice Bauers Stimme ist verloren.
Dass sich die geografische Distanz zwischen den zwei Städten deutlich bemerkbar machte, schien Franz Kafka entgegenzukommen. Er war zwar verliebt, wollte aber auf keinen Fall heiraten, und ein physisches Treffen zögerte er lange hinaus. Um seine Bedenken zu untermalen, zog er das Gedicht eines chinesischen Gelehrten aus dem 18. Jahrhundert bei. Der schilderte, wie er «in tiefer Nacht» las und schrieb, bis seine Geliebte gegen Morgen mit der Frage «Weisst Du, wie spät es ist?» seine Lampe ausmachte. Die Ehe, so Kafka, wäre eine Wiederholung dieser Szene, Nacht für Nacht. Das wolle er Felice nicht zumuten.
In der aktuellen Taschenbuchausgabe der Briefe im Fischer-Verlag heisst der Name des chinesischen Dichters auch in den Anmerkungen «Yan-Tsen-Tsai». Wenn man den googelt, kommt man nicht weit. Zum Glück haben sich Sinolog:innen mehr mit Kafka beschäftigt als Kafka-Kenner:innen mit chinesischer Literatur. Ren Weidong aus Peking bezieht sich auf den französischen Sinologen François Jullien, wenn er sich über Kafkas Interpretation des Dichters, der heute als Yuan Mei (oder Zi Cai) bekannt ist, wundert. Für «die Chinesen» sei klar, dass das besagte Gedicht nichts Quälendes enthalte, sondern eine fast schon ideale Szene im Leben eines Dichters und seiner duldsam begehrenden Geliebten darstelle.
Ausgerechnet dieser Yuan Mei (1716–1797) steht allerdings für Aufruhr, was die Geschlechterverhältnisse betrifft. In seinen letzten Lebensjahren erntete er Kritik, weil er als Pionier auch Frauen als Schülerinnen akzeptierte und die Werke dieser Dichterinnen in einer Anthologie veröffentlichte. Zu ihnen gehörte Xi Peilan. Von ihr findet sich online das wunderbare Gedicht «Den Jangtse überqueren» (渡江). Wie ein Laubblatt wankt ihr Boot auf dem Fluss. Oben und unten, Ost und West, Wellen und Wolken gehen ineinander über. Das ist eine helle Freude, die Fahrt weckt «herrlichen Mut». Wäre sie in den Frauengemächern geblieben, hätte sie das nicht erlebt, schreibt Xi Peilan.
Annette Hug ist Autorin in Zürich. Sie kombiniert Briefpost mit einer Internetrecherche, um west-östlichen Kommunikationsblockaden nachzugehen.