Von oben herab: Adolf liebt dich
Stefan Gärtner über Muschgs Begegnungen
Sehe ich meine blaue Hesse-Gesamtausgabe aus dem Regal leuchten, muss ich immer an J. denken, der dazu vor zwanzig Jahren einfiel, Hesse finde sie wirklich schrecklich. Ob es trotzdem oder eher deshalb zu den gewünschten Intimitäten gekommen ist, habe ich vergessen und hoffe, es geht ihr gut.
Die Ausgabe bekam ich mit sechzehn oder siebzehn zu Weihnachten, und viele werden das als Entschuldigung verstehen, Hesse gilt ja allgemein als Kinderkram. 2012 hat «Die Welt» im Interview mit Volker Michels, jahrzehntelang bei Suhrkamp für Hesse zuständig, das geradezurücken versucht, und dabei hat Michels die Anekdote erzählt, wie Adolf Muschg in den USA unterwegs war, und «als er sein Auto auftanken wollte, fand er den Tankwart so jobvergessen in ein Buch vertieft, dass er ihn ansprechen musste. Das Buch war die amerikanische Ausgabe eines Romans von Hermann Hesse. Auf die Frage, was ihn denn an diesem europäischen Autor so fasziniere, bekam er zur Antwort: ‹Because Hesse likes me.›» Dieselbe Anekdote fand sich nun zu Kafkas 100. Todestag im «Tages-Anzeiger», allerdings von Muschg höchstselbst erzählt: «‹What do you read?›, erlaubte ich mir jetzt doch zu fragen. Er kippte den Umschlag in meine Richtung und sagte: ‹It’s the best I’ve ever read.› Und ich las: ‹Franz Kafka. The Metamorphosis and Other Short Stories›.»
Die einfachste Erklärung wäre, Michels habe sich im Autor geirrt; aber kann das sein, dass ein Tankwart im amerikanischen Nirgendwo gesagt hat: «Because Kafka likes me?» Ist das nicht eben der Unterschied zwischen Kafka und Hesse, dass der eine zum Leibautor von Hippies, Adoleszenten und Esoterikerinnen hat werden müssen und der andere zum Schöpfer einer Literatur, die, bei aller biografischen Grundiertheit, keine Anstalten macht, als Lebenshilfe missverstanden zu werden? Wir sind Kafka nämlich scheissegal, und das ist nicht die schlechteste Voraussetzung für den «grössten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts» (Willi Winkler, «Süddeutsche Zeitung»).
Vielleicht macht Adolf Muschg sich schlicht einen Spass daraus, die Anekdote mit wechselndem Personal zu erzählen, mit Thomas Mann («I love his irony!»), Sibylle Lewitscharoff («What is her profession again?») oder Lukas Bärfuss («He helps me fall asleep»), wobei Adolf Muschg natürlich auch schon fast hundert ist und die Wahrscheinlichkeit, einen Tankwart bei der Kafka- oder Hesse-Lektüre anzutreffen, in heutiger Zeit noch einmal um tausend Prozent gesunken ist. Schon darum, weil es den Beruf des Tankwarts nicht mehr gibt und ja sowieso kein Aas mehr liest, wie die ganze monatelange Aufregung um Kafka ein Hinweis darauf ist, dass die Zahl der Leute, die man je im Zug bei der Kafka-Lektüre überrascht hätte, bei exakt null liegt. Wenn Leute im Zug überhaupt noch etwas lesen, dann irgendwelchen Ramsch aus dem Bahnhofsbuchhandel, der Kafka deshalb gar nicht erst vorrätig hat.
Ich selbst lese im Zug allerdings auch nicht mehr, ich sehe lieber aus dem Fenster. Wahrscheinlich würden die Mitreisenden, die auf ihren Telefonen durch ihre Fotosammlung scrollen oder auf dem Tablet Serien schauen, Kafka oder Adolf Muschg lesen, wenn die ständigen Katastrophenmeldungen nicht die Konzentration stören würden, wie überhaupt viele finden werden, Zugfahren sei in Deutschland schon kafkaesk genug. Hätte ich im Leben je eine Zeile Muschg gelesen, könnte ich jetzt sagen: Die ideale Zugfahrt ist wie ein Buch von Muschg, nämlich ohne besondere Vorkommnisse, und man kann in Ruhe aus dem Fenster sehen. Aber mir fällt bloss die immerhin halbwahre Anekdote ein, wie der Freund und komische Dichter Thomas Gsella im Zug einer Frau begegnete, die ein Buch von Thomas Gsella las. Wie sich im Gespräch herausstellte, war sie Tankwartin aus den USA und gab zur Erklärung an, im Bahnhofsbuchhandel habe es «leider» keinen Kafka gegeben.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.
Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.