Grönland: Vor dem Goldrausch
Das schmelzende Eis gibt auf der grössten Insel der Welt den Zugang zu begehrten Rohstoffen frei. Viele Grönländer:innen hoffen, dank Gewinnen aus dem Bergbau die Unabhängigkeit von Dänemark zu erlangen. Doch so einfach ist das nicht.
Qupanuk Olsen blickt über die Schulter, macht einen Schritt nach links. Die Kulisse hinter ihr erinnert an ein Landschaftsgemälde: bunte Holzhäuschen, wolkenverhangene Gebirgszüge, ein einsamer Eisberg in der Bucht. Dann streckt Olsen den Arm schräg nach vorne, schaut in die Kamera und drückt auf Play: «Grönland ist riiiesig, und wir haben viele Mineralien hier. Gold, Silber, Zink, Titanium, Rubine, Diamanten.»
Schnitt, sie lässt ihr Smartphone sinken. Olsen ist 39 Jahre alt, trägt eine modische Regenjacke, hat die glatten schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden. Sie steht auf einer Anhöhe in Grönlands Hauptstadt Nuuk. Eine eisige Brise lässt ihre Federohrringe im Wind tanzen. Sie drückt erneut auf Play: «Aufgrund des Klimawandels schrumpft der Eisschild. Immer mehr Land wird freigesetzt, sodass es in Zukunft viel mehr Mineralien für uns geben könnte.»
Olsens Hand schwingt durch die Luft, eine theatralische Betonung. Ihre Gestik und ihre Intonation sind die einer Influencerin – und genau das ist Olsen auch. Mit ihren kurzen Clips über das Leben in Grönland hat sie sich einen Namen gemacht. Über eineinhalb Millionen folgen ihr auf Social Media, das Dreissigfache der Bevölkerung Grönlands. Damit ist sie ohne Zweifel die bekannteste Bewohnerin der Insel. Doch Olsen ist nicht nur ein Internetpromi. Sie ist auch die einzige Bergbauingenieurin des Landes.
Grönlands Schätze liegen eigentlich vor dem Festland. 98 Prozent der Exporteinnahmen stammen aus der Fischerei. Zurzeit sind nur zwei Minen in Betrieb, beide gerade so rentabel. Viel zu wenig, wenn es nach Olsen geht. «Die Bergbauindustrie könnte unser Weg in die Unabhängigkeit sein.» Das sehen heute viele Grönländer:innen so. Nur, ist das realistisch? Und wenn ja, zu welchem Preis?
Grönland ist ein Land der Extreme. Die grösste Insel der Welt ist 52-mal so gross wie die Schweiz. Eis bedeckt 81 Prozent des Landes, an seiner dicksten Stelle misst es drei Kilometer. In den eisfreien Gebieten leben rund 56 000 Menschen, die Besiedlung gleicht einer Perlenkette entlang der Küsten. Trotz der rauen Natur übt Grönland eine ungebrochene Faszination aus, allerlei Geschichten und Mythen ranken sich um Wikinger, Walfänger und Abenteurer.
1721 legte ein Boot im Südwesten der Arktisinsel an. An Bord war der dänisch-norwegische Missionar Hans Egede, ebenso ein Dutzend amnestierter Häftlinge, einige Soldaten sowie elf Pferde. Auf einer kargen Landzunge in der zerklüfteten Fjordlandschaft gründete Egede eine Siedlung: Godthåb, gute Hoffnung. Es war der Beginn der Kolonisierung durch Dänemark. Für die indigene Bevölkerung, die Inuit, markierte das einen tiefen Einschnitt. Sie mussten sich den dänischen Kolonisator:innen unterordnen, den christlichen Glauben annehmen, ihre traditionellen Riten wurden verboten. Einige wurden sogar nach Europa verschleppt und auf Jahrmärkten zur Schau gestellt.
Trotz weitgehender Selbstverwaltung bleibt Grönland bis heute ein Teil Dänemarks. Die Siedlung Godthåb heisst heute Nuuk und ist ein modernes Städtchen mit einer Universität, Supermärkten, Bars und einem architektonisch spektakulären wellenförmigen Kulturzentrum. Nach dem Videodreh lässt sich Olsen auf einen Stuhl in einem Café fallen, das mit seinen skandinavischen Möbeln und den jungen Leuten hinter Laptops ebenso gut in Kopenhagen oder Berlin stehen könnte. Sie bestellt ein Schinkencroissant und beginnt, ihre Geschichte zu erzählen. Olsen wuchs im Süden Grönlands auf – in einer Region, in der das Klima etwas milder ist und im Sommer sogar Schafe weiden. Sie erinnert sich noch gut daran, wie «in der Nähe» (in grönländischen Relationen etwa 150 Kilometer entfernt) ihres Heimatorts eine Mine eröffnete. Dort machte sie ein Praktikum, studierte danach in Dänemark und Australien Ingenieurwesen mit Schwerpunkt Bergbau, bevor sie schliesslich nach Grönland zurückkehrte. Heute lebt Olsen, die sich stolz als Inuk bezeichnet, mit ihrer Familie in Nuuk. Sie dreht Videos, leitet ein Medienunternehmen und arbeitet für eine australische Minenfirma.
Windkraftanlagen, Elektroautos und andere Technologien der Energiewende benötigen zu ihrer Herstellung viele Mineralien. Grönland ist reich an Rohstoffen wie Lithium, Nickel und Kobalt, aber auch an sogenannten Seltenen Erden. China kontrolliert achtzig Prozent des weltweiten Marktes für diese strategisch wichtigen Rohstoffe und praktisch die ganze Lieferkette. Der Wettlauf um Ressourcen rückt Grönland geopolitisch zunehmend in den Fokus.
Warnschüsse gegen Eisbären
Im Jahr 2020 eröffneten die USA ein Konsulat in Nuuk. Ein Jahr zuvor hatte der damalige US-Präsident Donald Trump ernsthaft vorgeschlagen, Grönland zu kaufen – was Dänemark ablehnte. Als die EU im Mai dieses Jahres ebenfalls ein Büro in Nuuk eröffnete, betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Grönlands zentrale Rolle für Europas grüne Wende. Auch China verfolgt mit einer «arktischen Seidenstrasse» strategische Interessen in der Region. Steht ein arktischer Goldrausch bevor?
«Wer denkt, es sei einfach, hier zu arbeiten, der irrt sich», sagt Taatsi Olsen, während er durch eine Lagerhalle am Stadtrand von Nuuk marschiert. Zelte, Generatoren und Küchenutensilien stapeln sich auf Regalen. Olsen, 32 Jahre alt, markantes Gesicht, arbeitet für eine Firma, die Minenunternehmen bei Erkundungsprojekten unterstützt. «Wir machen in Grönland Dinge möglich» lautet der Slogan der Firma. Konkret bedeutet das: Boote chartern, Camps errichten, Personal bereitstellen. Alle Kunden kommen aus dem Ausland, meist sind es grosse Bergbaukonzerne aus Kanada oder der EU.
Olsen geht zu einem Metallschrank, schliesst die Tür auf und nimmt ein Gewehr heraus. «Kaliber .30–06. Wenn sich ein Eisbär nähert, geben wir zwei Warnschüsse ab», erklärt Olsen, der auch als Schiesslehrer ausgebildet ist. «Falls er sich weiter nähert, müssen wir ihn erlegen.» Nicht nur Raubtiere stellen in der arktischen Einöde Herausforderungen dar. Aufgrund der klimatischen Bedingungen sind Erkundungsprojekte nur in den Sommermonaten möglich, wobei die Temperaturen selbst dann unter den Gefrierpunkt fallen können. Auch die Entfernungen machen Bergbauprojekte zu einem logistischen Kraftakt. Stolze 2670 Kilometer liegen zwischen der Nord- und der Südspitze Grönlands. Strassen zwischen den Siedlungen gibt es nicht, von einer Eisenbahnverbindung ganz zu schweigen. Erst gestern, erzählt Olsen, sei er von einem Projekt im Nordwesten des Landes zurückgekehrt, das nur mit dem Helikopter zu erreichen ist.
Geologische Studien, Probebohrungen und Genehmigungsmarathons – all das kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Die Aussichten, dass tatsächlich eine Mine in Betrieb geht, sind gering. «Weniger als ein Prozent», schätzt Olsen die Erfolgsquote. Um das zu ändern, setzt er auch auf die Unterstützung durch die Politik.
Und die Arbeitsrechte?
Naaja Nathanielsen steht in einem lichtdurchfluteten Büro und hält einen rötlich schimmernden Stein in der Hand. Es ist ein Rubin. Nathanielsen ist 48 Jahre alt und Rohstoffministerin von Grönland. Naalakkersuisut heisst Grönlands Regierung, sie sitzt in einem roten Holzgebäude im Herzen Nuuks. Dass in Grönland vieles ein bisschen anders läuft, merkt man auch hier. Es gibt keine Sicherheitskontrollen, man spricht sich mit dem Vornamen an, die Ministerin trägt Turnschuhe. Nathanielsen geht zu einer Vitrine und zeigt auf ein Glas, das bis zum Rand mit einem weissen Pulver gefüllt ist. «Anorthosit aus einer unserer aktiven Minen» – ein wichtiger Rohstoff für die Herstellung von Glasfaser.
«Grönland gehört nicht zu den billigsten Orten, um Bergbau zu betreiben», sagt Nathanielsen. Dennoch gebe es viele Vorteile: eine stabile Demokratie, kaum Korruption, gute Beziehungen zu den Nachbarländern. Nathanielsen ist Mitglied der Inuit Ataqatigiit, der «Gemeinschaft der Inuit». Die linke Partei gewann 2021 die Wahlen und stellt seitdem den Ministerpräsidenten. Sie sieht sich als Vorkämpferin der Inuit, die fast neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachen. Und sie strebt die vollständige Unabhängigkeit von Dänemark an.

Seit dem Ende des Kolonialstatus 1953 haben sich die Grönländer:innen Schritt für Schritt mehr Selbstständigkeit erkämpft. In Referenden stimmten sie für einen Autonomiestatus, den Austritt aus der EU-Vorgängerin Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und für eine stärkere Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen. Dennoch entscheiden bei vielen wichtigen Fragen, etwa Verteidigungs- und Geldpolitik, weiterhin dänische Politiker:innen – oftmals, ohne je einen Fuss auf grönländischen Boden gesetzt zu haben.
Die Beziehung ist komplex: Einerseits schimpfen viele Grönländer:innen über die Qallunaat, die Dän:innen. Gerade die jüngere Generation hinterfragt immer selbstbewusster die Kolonialgeschichte und den von Dänemark gern propagierten Mythos, sie seien «gute Kolonisatoren» gewesen. Andererseits sind viele Grönländer:innen eng mit der dänischen Kultur verbunden, sprechen Dänisch als Zweitsprache, leben zeitweise oder dauerhaft dort.
Auch wirtschaftlich bleibt Grönland stark von der früheren Kolonialmacht abhängig. Rund die Hälfte des Staatshaushalts besteht aus Subventionen aus Dänemark, ergänzt durch Finanzhilfen aus der EU. Dies bietet Stabilität und Planungssicherheit. Doch in der Bevölkerung wächst der Wunsch nach Unabhängigkeit. Viele träumen davon, die Subventionen schrittweise durch Einnahmen aus dem Bergbau zu ersetzen. Doch ganz so einfach ist es nicht.
Der Aufbau einer Mine ist kostenintensiv, es dauert viele Jahre, bis sie in Betrieb geht und Einnahmen generiert. Hohe Kosten, hohes Risiko, keine direkten Gewinne – das schreckt viele grössere Investoren ab. Viele kleinere Unternehmen mit geologischem Fachwissen gebe es hier bereits, sagt Ministerin Nathanielsen. Nun sei es aber wichtig, auch grosse Unternehmen anzuziehen, Firmen, die die gesamte Wertschöpfungskette abdecken und Infrastrukturprojekte wie Häfen finanzieren. Ein weiteres Problem für die Bergbauindustrie: Sie ist stark von internationalen Rohstoffpreisen abhängig. Viele Staaten setzen auf Protektionismus und kontrollieren die Preise, nicht nur China.
Um grössere Bergbauprojekte in Grönland zu realisieren, wäre zudem Zuwanderung aus dem Ausland erforderlich. Die Arbeitslosenquote im Land ist gering, und es gibt nur wenige ausgebildete Fachkräfte. Hunderte, wenn nicht Tausende ausländischer Bergleute könnten benötigt werden. Wäre Grönland darauf vorbereitet? Nathanielsen meint, das Land sei daran gewöhnt, ausländische Arbeitskräfte einzufliegen. Dennoch befürchten viele, dass im Wettbewerb um internationale Investitionen die Arbeitsrechte, auch die der grönländischen Beschäftigten, unter die Räder geraten könnten.
«Ground Zero des Klimawandels»
Der Inuit Circumpolar Council, die multinationale Vertretung der Inuit, warnt zudem vor einer zu grossen Abhängigkeit von Grossmächten, vor Umweltzerstörung, gar einem «grünen Kolonialismus». Nathanielsen teilt diese Bedenken nicht: Das Rohstoffgesetz schaffe klare Regeln, die die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards gewährleisteten. Tatsächlich sind die Hürden für Bergbaufirmen in Grönland hoch. Man kann kein Land besitzen, sondern es lediglich von der Regierung pachten. Unternehmen müssen strenge Umweltauflagen einhalten. Und es gibt eine kritische Zivilgesellschaft, die dem Staat und der Wirtschaft auf die Finger schaut.
Ein Beispiel dafür ist das Kvanefjeld-Projekt. Es sollte eigentlich zu einer der weltweit bedeutendsten Minen für Seltene Erden werden. Allerdings war auch der Abbau von Uran geplant, was unter den Einheimischen für Kontroversen sorgte. Letztlich erwirkten Umweltschützerinnen und Politiker ein Abbauverbot, das Projekt in Südgrönland platzte. Zudem verbot die Regierung in der Folge die Offshore-Ölförderung.

Die Influencerin und Bergbauingenieurin Qupanuk Olsen, die mehrere Jahre für die Regierung arbeitete, kann diese zurückhaltende Politik nicht nachvollziehen. Die Projekte seien gut durchdacht gewesen und hätten keine Gefahr für die Umwelt oder die Menschen dargestellt. Durch übermässige Regulierungen schrecke die aktuelle Regierung potenzielle Investoren ab. Das sehen auch viele Wirtschaftsvertreter:innen so. Grönland sei eine «Planwirtschaft», was oftmals nicht mit den dynamischen Anforderungen der Bergbauindustrie vereinbar sei.
Tatsächlich sind die meisten grossen Firmen in Staatsbesitz, und die kritische Infrastruktur wird von der Regierung kontrolliert. Das ist auch den logistischen Herausforderungen im riesigen, dünn besiedelten Land geschuldet. Manchmal transportiert die staatliche Air Greenland auf einem Flug nur gerade ein, zwei Passagier:innen – rentieren würde das nie, aber es ist wichtig, um etwa Bewohner:innen abgelegener Siedlungen den Spitalbesuch zu ermöglichen. Laut Berechnungen von Olsen wären rund zwanzig aktive Minen erforderlich, um die dänischen Subventionen zu ersetzen. Derzeit ist das unrealistisch. Doch ausgerechnet eine globale Krise könnte der Bergbauindustrie neuen Auftrieb geben.

Gaba Lynge geht zur Reling des Bootes und zeigt auf eine steile Felswand: «Noch vor einigen Jahren hat der Gletscher in den Fjord geragt.» Nun zieht sich die Eiszunge nicht einmal mehr den halben Berg hinunter. «Das ist eine Folge des Klimawandels, da gibt es keinen Zweifel», sagt Lynge, 21 Jahre alt, seine schwarze Mähne flattert im Wind. Er arbeitete für Nuuk Water Taxi. Das Unternehmen organisiert Bootstouren, meist fährt es Tourist:innen in die Eisfjorde.
Heute ist das Boot nur halb voll, in der beheizten Kabine gibt es Tee und Kekse. Die Gäste tragen Outdoorjacken, haben teure Kameras im Anschlag. Wer Nuuk auf dem Wasserweg hinter sich lässt, wird innerhalb weniger Minuten von der scheinbar endlosen Natur Grönlands verschluckt. Fjorde, Berge, Landzungen, kleine Inseln. Auf der Karte sieht die Region aus wie ein Puzzle aus tausend Teilen. Neben den Naturwundern will Lynge mit den Tourist:innen auch über die Auswirkungen der Klimakatastrophe sprechen. «Ich sage ihnen oft: Eure Kinder werden die Gletscher nicht mehr sehen.» Trotz seines Alters ist Lynge das, was man einen Experten nennen kann. Er nahm am Programm «Students on Ice» teil, das ausgewählten Studierenden die Möglichkeit bietet, die Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis und der Antarktis zu erforschen. Was sie dort beobachten: Die Gletscher schmelzen noch schneller als gedacht. «Sie haben ein Ablaufdatum», nennt Lynge das.
Die Arktis erwärmt sich viermal so schnell wie der Rest der Welt. Laut einer im Januar 2024 im Wissenschaftsmagazin «Nature» veröffentlichten Studie hat Grönland in den letzten Jahren zwanzig Prozent mehr Eis verloren als bisher angenommen. Als «Ground Zero des Klimawandels» wird die Insel häufig bezeichnet. Die Erwärmung gefährdet das traditionelle Leben der Inuit. Fischerei und Jagd müssen den sich verändernden Routen der Tiere angepasst werden, das sensible Ökosystem droht aus den Fugen zu geraten. Die steigenden Temperaturen in Grönland haben ausserdem weitreichende Folgen für den Rest der Welt. Das schmelzende Inlandeis trägt massgeblich zum Anstieg des Meeresspiegels bei und beeinflusst globale Wetterphänomene wie den Golfstrom. Seit einigen Jahren weiss man, dass es einen Zusammenhang zwischen Eisverlusten in der Arktis und Extremwetter in Europa gibt.
Andererseits ermöglicht das mildere Klima eine zaghafte Landwirtschaft im Süden und eröffnet dem Tourismus neue Möglichkeiten, etwa arktische Segeltouren. Viele Grönländer:innen sind erfreut darüber, in den Sommermonaten keine Handschuhe mehr tragen zu müssen. Und die grosse Eisschmelze legt zuvor unzugängliche Gebiete frei. «Es gibt immer mehr Land zu entdecken», sagt Lynge und grinst. «Vielleicht finden wir sogar den Weihnachtsmann.» Die Bergbauindustrie behält die klimatischen Veränderungen genau im Auge: Immer grössere Flächen, unter denen wertvolle Rohstoffe schlummern, werden frei von Eis. Schiffe können potenzielle Abbaugebiete über längere Zeiträume ansteuern. Wirtschaftsexpert:innen sind aber skeptisch, ob in naher Zukunft ein Rohstoffboom einsetzen wird. Sie empfehlen stattdessen, auf stabilere Einkommensquellen wie den Tourismus zu setzen.
«Coolcation» gefällig?
Das Wassertaxi saust mit dreissig Knoten durch das türkis schimmernde Wasser, immer weiter in den Fjord hinein. Ein einsamer Buckelwal zieht vorbei. Man sieht Eisberge in den wildesten Formen und Farben, wie man sie sich nicht ausdenken könnte. Einige wirken fluffig wie Rahm, andere gläsern wie Porzellanfiguren. Der Kapitän fischt einen Eisblock aus dem Wasser, hackt kleine Stücke ab, lässt sie in Plastikgläser plumpsen. Dann holt er den Whiskey hervor, füllt auf. «Prost!»
Wegen solcher Momente kommen Tourist:innen nach Grönland, bislang vor allem allein reisende Outdoorfreaks und Gäste von Kreuzfahrtschiffen. Das Land ist schwer zu erreichen, die Preise sind schwindelerregend, es gibt nur wenige Unterkünfte und kaum Erfahrung im Servicebereich. In diesem Jahr wird in Nuuk der neue internationale Flughafen eröffnet. Überall in der Stadt wird gehämmert, gesägt, geschweisst. Grönland bereitet sich auf neue Zeiten vor.
Auch Influencerin Qupanuk Olsen glaubt, dass der Tourismus in naher Zukunft eine Schlüsselrolle spielen wird: «Wir haben grosses Potenzial und können viel von Island lernen.» Diese ebenfalls dünn besiedelte Insel ist zum Tourist:innenmagnet geworden. Kaltes Klima hat sich in Zeiten der Erderwärmung zu einem attraktiven Verkaufsargument entwickelt. «Coolcation» heisst das im Trendjargon, davon könnte auch Grönland profitieren.
Olsen fährt mit ihrem Auto zum alten Kolonialhafen, hält vor einer roten Holzkirche. Es ist der Ort, wo Hans Egede einst das erste Haus seiner Siedlung errichten liess. Olsen wandert den kleinen Hügel hinauf, von dem ein bronzener Egede auf die nördlichste Hauptstadt der Welt hinunterblickt, als ob er sagen wollte: «Ich regiere immer noch.» Für viele ist die Statue nicht mehr zeitgemäss, eine intensive Debatte entflammte. Mehrfach wurde das Denkmal beschmiert, es gab eine Petition, es zu entfernen.
«Ich will, dass er verschwindet», sagt Olsen und schaut zur Statue mit der Lockenperücke hoch, die eine Bibel in der Hand hält. «Er repräsentiert uns Inuit nicht.» Stattdessen könnte man eine grönländische Persönlichkeit ehren oder das Kajak, eine grönländische Erfindung – irgendetwas anderes. «Viele hier denken bis heute, wir können nicht ohne Dänemark überleben», sagt Olsen. Das will sie ändern. Irgendwann, sagt sie, werde ihr Land auf eigenen Beinen stehen. Vielleicht mache sie bald ein Video darüber.
Dieser Text wurde durch den Medienfonds «real21 – die Welt verstehen» finanziell unterstützt.