Inuit: «Man hat sie nie gefragt»
Zuerst wurden sie umgesiedelt, weil man sie zu modernen Menschen machen wollte. Jetzt zwingt sie der Klimawandel wieder zu Veränderungen. Was passiert mit Nomaden, wenn sie plötzlich ihr Leben ändern müssen? Und welche Ungerechtigkeiten drohen sich zu wiederholen? Ein Interview mit Yvon Csonka, Schweizer Professor in Grönland.
WOZ: Yvon Csonka, Sie sind Ethnologe und beschäftigen sich im Rahmen des internationalen Polarjahrs mit der Migration von Inuit. Was ist damit gemeint?
Yvon Csonka: Wir untersuchen Zwangsumsiedlungen von Inuit in Kanada und Grönland, deren Ursachen und deren Konsequenzen.
Inuit sind ursprünglich ja Nomaden, wer hatte ein Interesse, daran etwas zu ändern?
Die ersten Umsiedlungen fanden im letzten Jahrhundert statt, praktisch zur gleichen Zeit und in allen arktischen Regionen, also sowohl in Kanada und Grönland als auch in Russland. Die Politik in diesen Ländern war zwar grundverschieden, man denke an den Kalten Krieg, aber alle Regierungen verfuhren genau gleich.
Die Inuit wurden also von den jeweiligen Regierungen gezwungen, ihre Jagdgründe zu verlassen?
Ja, angefangen hat das zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. In Kanada zum Beispiel war bis 1945 gar nicht klar, ob Inuit überhaupt kanadische Staatsbürger sind. Erst als wegen des Kriegs im Norden Militärstationen gebaut wurden, realisierte man, dass es dort eine Bevölkerung gibt. Zur selben Zeit baute die Regierung ihr Wohlfahrtssystem aus. Im Zuge dessen führte man unter den Inuit eine Volkszählung durch - und veränderte ihr Leben damit dramatisch.
Mit einer Volkszählung?
Die Kanadier verstanden die Namen der Inuit nicht und gaben ihnen deshalb Nummern. Es hiess, die müssten sie jederzeit mit sich tragen. Sie machten das mit jedem Einzelnen, eigentlich in bester Absicht, denn jede Familie in Kanada hatte ein Recht auf Unterstützung ihrer Kinder. Diese Hilfe wollten die Kanadier auch den Inuit zuteilwerden lassen. Das Ganze war eigentlich gut gemeint, aber letztlich sehr paternalistisch.
Was waren die Konsequenzen?
Die waren nicht ausschliesslich negativ: Die Kinder gingen zur Schule. Aber damit sie zur Schule gehen konnten, sollten sie auch in der Nähe einer Schule leben. Also überzeugte man die Familien, dorthin zu ziehen, wo Schulen entstanden - namentlich in Orte, wo es bereits eine Polizeistation oder eine religiöse Mission gab. Einer der ersten Schritte war also, die Nomaden zu sesshaften Bürgern zu machen.
War das typisch für Kanada?
Nein, genau dasselbe passierte eben auch in Russland, mit denselben Beweggründen. Und man fragte die Leute nie, was sie selbst wollen.
Und die Inuit akzeptierten das?
Ja. Dazu gibt es zumindest in Kanada noch mündliche Aussagen.
Sie betreiben selbst in Kanada seit Jahren Feldforschung. Warum liessen sich die Inuit dort die Umsiedlungen einfach gefallen?
Sie hatten Angst vor den Weissen. Nicht so sehr vor Gewalt, sondern weil sie bereits ökonomisch von ihnen abhängig waren: Man verkaufte den Weissen beispielsweise Fuchsfelle und erhielt im Gegenzug Gewehre für die Jagd. Die Weissen hatten mit der Drohung, den Handel abzubrechen, ein sehr effizientes Druckmittel. Und dann gab es noch eine zweite Entwicklung: Die Weissen brachten Krankheiten zu den Inuit. In den vierziger Jahren musste fast die Hälfte aller Inuit in Kanada ins Sanatorium. Das hatte grosse Auswirkungen auf ihr Leben, die Gesellschaft brach auseinander, sie waren so hilflos, dass sie bereitwillig in Dörfer umzogen. Genau dasselbe passierte auch in Russland. Bis auf ein paar wenige, die sich widersetzten, wurden alle umgesiedelt.
Gibt es Menschen, die sich bis heute wehren konnten?
In Nordamerika und Grönland gibt es viele Inuit, die seminomadisch leben. Das heisst, sie haben eine Wohnung oder ein Haus in der Stadt, aber während einiger Monate sind sie unterwegs auf der Jagd. Und eine grosse Zahl vor allem älterer Inuit lebt in kleinen Dörfern. Dort haben die Menschen einiges ihrer ursprünglichen Lebensart erhalten. Anders ginge es auch gar nicht, denn sie sind Fischer und Jäger und müssen sich den Tieren anpassen.
In Grönland hat vor allem ein Fall von erzwungener Umsiedlung jüngst wieder für Schlagzeilen gesorgt: 1953 errichtete die US-Armee in der Nähe von Thule, im Nordwesten des Landes, einen Armeestützpunkt ...
Ja, die dänische Regierung erteilte den Amerikanern grünes Licht für den Bau - ohne die Menschen, die dort lebten, nach ihrer Meinung zu fragen. Die mussten von einem Tag auf den andern umziehen. Man hatte ihnen Grosses versprochen: wunderbare neue Dörfer mit schönen Häusern und finanzielle Kompensation. Dort angekommen aber sahen sie, dass das leere Versprechen waren. Erst viel später wurde das Versäumte nachgeholt.
Vor wenigen Jahren nun gingen die Inuit wegen der Thule-Umsiedlung vor Gericht.
Ja. In der Zwischenzeit war es ja auch noch zu dem Zwischenfall mit dem US-Bomber gekommen, der mit mehreren Atombomben an Bord abgestürzt war. Ein grosses Gebiet war verseucht. Eine der Bomben wird noch heute vermisst.
Wurde die Klage der Inuit vom Gericht anerkannt?
Ja, die Richter entschieden, die Regierung habe einen Fehler gemacht, indem sie die betroffene Bevölkerung nicht befragt hatte. Aber das wars auch schon. Es gab keine Entschädigung. Nun planen die Kläger, den Fall weiter an den Europäischen Gerichtshof zu ziehen, so sie das Geld dafür aufbringen können.
Grönland wurde lange von den Dänen regiert. Heute dürfen die Inuit immerhin die Inlandpolitik selbst gestalten. Aber auch die eigenen Politiker und Politikerinnen forcieren heute den Umzug von in kleinen Siedlungen lebenden Menschen in grössere Dörfer und Städte. Weshalb?
Weil es die Regierung billiger kommt. Schulen und Ärzte für so abgelegene und kleine Siedlungen kosten viel Geld. Noch lebt Grönland zu einem grossen Teil von den Geldern Dänemarks. Aber man will unabhängig werden, auch ökonomisch. Man versucht also zu sparen, und eine Möglichkeit besteht darin, die Leute zu entmutigen, in abgelegenen Orten zu leben. Gleichzeitig sucht das Land nach neuen Einnahmequellen. Beispielsweise ist ein riesiges Aluminiumwerk geplant, dafür müssten dann Tausende von Arbeitern in Fabriknähe verlegt werden.
Umsiedlungen werden also weiterhin stattfinden, auch wegen der möglichen Gewinnung von Bodenschätzen. Dass diese bald erreichbar werden, erhofft man sich jedenfalls als positiven Effekt der Eisschmelze ...
Ja, die Bodenschätze würden die Abnabelung von Dänemark sehr viel einfacher machen. Zu den möglichen langfristigen Konsequenzen von Umsiedlungen hat es bisher kaum Studien gegeben. Erst in jüngerer Zeit macht man in Kanada so genannte Impact Studies. Bei unserer Forschung betrachten wir solche Fragen vertieft: Was ist aus den Menschen geworden, über zwei oder drei Generationen, haben die Veränderungen ihnen Verbesserungen gebracht - und wenn ja: Für wen hat sich die Situation verbessert, für wen nicht?
In Nuuk, der Hauptstadt von Grönland, ist vor allem das Elend augenfällig: Der Alkoholismus scheint in der Inuitbevölkerung ein grosses Problem zu sein.
Ja, sehr! Auch der Kindsmissbrauch und die vielen Selbstmorde - all das ist sehr verbreitet in Grönland. Und viele Leute sind sehr passiv. Diese Probleme gibt es erst seit fünfzig Jahren. Sie entstanden zur gleichen Zeit, in der die sogenannte Modernisierung stattfand und in der die Bevölkerung in die Zentren geholt wurde. Es ist also klar, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Problemen und dem den Inuit auferlegten Zwang, ihr Leben zu ändern.
Vom Nomaden zum Sesshaften ...
Ja. Im Westen glaubte man fest an die Modernisierung und dass sie für alle gut sei. Man fand, das Nomadentum sei keine praktische Lebensform, jeder solle von den Errungenschaften und Bequemlichkeiten der Moderne profitieren können. Und dann glaubte man, diese Leute seien zu blöd, um das zu verstehen und für sich selbst zu entscheiden. Deshalb hat man für sie entschieden, ohne sie zu fragen. So lief das damals nicht nur in der Arktis, sondern in den meisten kolonialisierten Ländern ab.
Der Klimawandel wird den Inuit erneut rasche Veränderungen aufzwingen.
Oh ja! Ich war kürzlich mit Jägern aus Kanada, Alaska und Grönland ein paar Tage auf dem Eis unterwegs. Unsereins sieht die Veränderungen nicht von blossem Auge, aber die Jäger sagten, mit dem Finger zeigend: «Vor drei Jahren konnten wir noch dorthin fahren. Letztes Jahr war es bereits gefährlich, weil das Eis sehr dünn war. Dieses Jahr mussten wir die Jagdgründe aufgeben, die Tiere sind unerreichbar geworden.» An manche Orte gelangen sie in Grönland nur noch mit langen Umwegen übers Inlandeis, Berge rauf, Gletscher runter. Andere Orte sind nicht mehr wie bis anhin drei Monate pro Jahr zu erreichen, sondern nur noch drei Wochen. Das macht die Jagd sehr viel schwieriger. Gleichzeitig ist jetzt der vom Aussterben bedrohte Polarbär geschützt, auch viele andere Tiere, es gibt Jagdquoten, und es muss sie geben! Aber für die Jäger ist es sehr schwierig geworden.
Können sie sich den Veränderungen anpassen?
Sie könnten, wenn die Veränderungen nicht so schnell passieren würden. Sie müssen ihre Infrastruktur anpassen, entscheiden, ob sie mit Booten oder mit Hunden arbeiten, wie viele Hunde sie füttern können. Aber die Situation ist jedes Jahr wieder anders.
Unsereins zwang den indigenen Völkern die Moderne auf. Also jenen Lebensstil, der für den Klimawandel verantwortlich ist und der sie jetzt erneut in Not bringt. Gibt es vonseiten der Inuit Ressentiments gegenüber dem Westen?
Nein. Wenn überhaupt, dann gegen-über den dänischen Kolonialherren. Es gibt kämpferische Exponenten, die international auf die Situation der Inuit aufmerksam machen. Aber zumindest in Grönland machen die Inuit keine Anschuldigungen, obwohl man natürlich sehr gut informiert ist und genau weiss, was mit dem Klima passiert.
Ist die Regierung eine Stütze?
In Grönland überhaupt nicht. Wegen des Klimawandels und als Konsequenz der veränderten Jagdperioden haben viele Jäger längere Zeit keine Arbeit. Einige von ihnen trinken dann, was die Probleme verschärft. Die Reaktion der Regierung: «Ihr kostet uns doch schon so viel Geld, und jetzt gebt ihr euren Lohn auch noch für Alkohol aus!»
Yvon Csonka
Yvon Csonka, 52, hat in Neuenburg und Quebec studiert. Seit 2001 ist er Professor an der Universität von Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, und seit 2003 Leiter des Department of Social and Cultural History. Im Rahmen des International Polar Year 2007 - 2009 leitet er das Forschungsprojekt «Move», das der Frage nachgeht, wie Umsiedlungen von Inuit in der ostkanadischen Arktis und in Grönland vonstatten gingen und welche Konsequenzen diese hatten.
Das Polarjahr
Am vierten International Polar Year 2007 - 2009 (IPY) beteiligen sich mehrere Tausend ForscherInnen aus über sechzig Ländern. Die ersten Projekte im Rahmen des Polarjahrs starteten im März dieses Jahres, die letzten werden im März 2009 abgeschlossen sein. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Klimawandel soll eine Vielzahl von Projekten neue Erkenntnisse liefern. Es ist das erste IPY, das im Wissen um die Erderwärmung und deren Auswirkung auf die Pole organisiert wird. Das letzte Polarjahr liegt bereits fünfzig Jahre zurück, es wurde 1957 - 1958 durchgeführt. Ein wichtiges Resultat war damals der Antarktisvertrag, der die Südpolregion 1961 zur neutralen Zone erklärte. Inmitten des Kalten Kriegs konnten damit Spannungen im Zusammenhang mit Hoheitsrechten gelöst und eine Militarisierung der Antarktis verhindert werden. Hoffnungen auf ähnliche Resultate hat das aktuelle Polarjahr in Bezug auf die Arktis geweckt, vor allem was den Schutz der fragilen Umwelt angeht. Diese Hoffnungen dürften sich allerdings angesichts des Wettlaufs um die Bodenschätze in der Arktis zerschlagen (siehe Seite 10).
Das vierte Polarjahr wird vom International Council for Science (ICSU) und der World Meteorological Organisation (WMO) getragen. Neben der Naturwissenschaft steht erstmals auch der Mensch im Fokus.