Literatur: Es geht um Lust, gelöscht wird nichts

Nr. 43 –

Buchcover von «wir kommen»
Liquid Center (Hrsg.): «wir kommen». DuMont Buchverlag. Köln 2024. 224 Seiten. 37 Franken.

In diesem Buch wird masturbiert und theoretisiert, werden Traumata verarbeitet und Kinder geboren, werfen Häute Falten, sterben Väter, verwandeln sich Frauen in Hündinnen. «wir kommen» ist glitschig, zärtlich, düster – kurz: ein merkwürdig berührender Text.

Geschrieben haben ihn achtzehn Autor:in­nen unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen Herkünften und Erfahrungshintergründen. Auf Einladung des feministischen Literaturkollektivs Liquid Center (bestehend aus Verena Güntner, Elisabeth Hager und Julia Wolf) schrieben sie einen Sommer lang am selben Onlinedokument. Vorgaben gab es keine, ausser: Es geht um Lust, und gelöscht wird nichts. Entstanden ist dabei ein vielstimmiger Strom. Egal wo man einsteigt, er reisst einen mit. In kurzen Kapiteln entspinnen sich intime Gespräche in einer Sprache, die mal salopp, mal poetisch ist. Ein bisschen fühlt es sich an, als sässe man mit den Autor:innen am Tisch. Bloss weiss man nie, wer spricht.

«wir kommen» zeigt, wie kollektives Schreiben als feministische Praxis aussehen kann. Es ist ein Schreiben, das sich über männlichen Geniekult hinwegsetzt: Das Buch lebt zwar vom Tabubruch, kommt in seiner Anonymität aber ganz ohne Selbstinszenierung aus. Es ist Empowerment, weil es einen beim Lesen spüren lässt, dass viele der individuellen Erfahrungen, die man als Frau oder als weiblich gelesene Person macht, eben auch strukturell sind. Darin erinnert es an Verena Stefans Kultbuch «Häutungen», das 1975 erschien: ebenfalls eine experimentelle Montage, die persönliches Erleben universalisiert, ohne ihm seine Einzigartigkeit abzusprechen.

«Häutungen» war damals ein durchschlagender Erfolg, wurde im Feuilleton aber als «Bekenntnisroman» abgetan. Zu einem ähnlichen Schluss gelangte Elke Heidenreich im SRF-Literaturclub, wo «wir kommen» vor einiger Zeit diskutiert wurde. Das sei keine Literatur, befand sie, sondern reines Befindlichkeitsgeschwafel. Empörend sei es, öffentlich – und anonym! – über Menstruationsbeschwerden zu sprechen. Hat sie verpasst, dass das Private politisch ist?

Veranstaltung zum Buch im Rahmen von «Zürich liest» am Samstag, 26. Oktober 2024, 20 Uhr, Karl der Grosse, Zürich.