Gesundheit: «Dass es wärmer wird, ist schlecht für das Gehirn»

Nr. 45 –

Personen mit neurologischen Erkrankungen leiden besonders unter extremer Hitze. Warum das so ist, erklärt Sanjay Sisodiya, Professor für Neurologie am University College London.

Senior:innen im englischen York im Hitzesommer 2022
«Das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, ist während oder nach Hitzewellen erhöht»: Senior:innen im englischen York im Hitzesommer 2022. Foto: Richard Saker, Laif

WOZ: Sanjay Sisodiya, wir wissen einiges über die Auswirkungen von Hitzewellen auf das Herz-Kreislauf-System oder auf die Atemwege, aber nur wenig darüber, was im Gehirn passiert. Was hat Ihr Interesse an diesem Thema geweckt?

Sanjay Sisodiya: Ich bin klinischer Neurologe und beschäftige mich hauptsächlich mit Epilepsie, insbesondere mit schwer behandelbaren Formen. In letzter Zeit haben einige der Patient:innen oder, bei jenen mit geistiger Beeinträchtigung, deren Eltern, erzählt, dass sie während Hitzewellen mehr Mühe haben. Und ich dachte: Klar, warum sollte sich der Klimawandel nicht auf das Gehirn auswirken? Es gibt so viele Prozesse im Gehirn, die mit der Hitzeregulation des Körpers zu tun haben. Und viele der Mechanismen, die bei Epilepsie eine Rolle spielen, werden von der Temperatur beeinflusst. Also habe ich angefangen, mir das genauer anzusehen.

Bei Ihren Patient:innen?

Nein, wir haben eine systematische Untersuchung der wissenschaftlichen Literatur durchgeführt und eine Liste von etwas mehr als 300 Publikationen erstellt, die wir für relevant hielten. Wir haben herausgefunden, dass sich unter anderem folgende Krankheiten in irgendeiner Weise verschlechtern können: Epilepsie, Schlaganfall, Meningitis, Multiple Sklerose, Migräne.

Epilepsie und Klima

Sanjay Sisodiya ist Professor für Neurologie am Queen Square Institute of Neurology am University College London (UCL). Er leitet das internationale Projekt «Epilepsy & Climate Change».

2021 wurde Sisodiya zum stellvertretenden Direktor für Nachhaltigkeit und Klimawandel am UCL Queen Square Institute of Neurology und zum Vorsitzenden der Climate Change Commission der International League Against Epilepsy ernannt.

Ein Übersichtsartikel zum Thema «Klimawandel und neurologische Erkrankungen» von Sisodiya erschien im Juni dieses Jahres in «Lancet Neurology».

 

Portraitfoto von Sanjay Sisodiya

Gibt es dazu Zahlen?

Während der Hitzewelle in Europa im Jahr 2003 betrafen etwa zwanzig Prozent der zusätzlichen Todesfälle Menschen mit neurologischen Erkrankungen. Bei der Hitzewelle in Grossbritannien 2022 war es ebenfalls etwa jeder Fünfte.

Die menschliche Evolution fand in einem anderen Klima statt. Kann unser Gehirn mit den steigenden Temperaturen nicht mehr mithalten?

Die optimale Temperatur für den unbekleideten menschlichen Körper liegt zwischen 20 und 26 Grad Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit zwischen 20 und 80 Prozent. Wenn der Körper und das Gehirn diesen Bereich verlassen, muss man handeln: Wir suchen den Schatten, ziehen Kleidung an, schalten die Heizung ein, legen Kleider ab, öffnen die Fenster. Das Gehirn hat sehr viele Moleküle – Komponenten –, die miteinander interagieren, und ihre Funktion hängt oft in hohem Masse von der Umgebungstemperatur ab. Sobald die Temperatur den engen Bereich überschreitet, für den das Gehirn ausgelegt ist, arbeiten die verschiedenen Komponenten möglicherweise nicht mehr optimal zusammen. Wir verstehen nicht genau, wie die vielen Elemente in diesem komplizierten Bild durch Hitze beeinflusst werden. Aber wir können es uns wie ein Uhrwerk vorstellen, bei dem die Teile nicht mehr richtig zusammenarbeiten.

Aber sorgt nicht die Thermoregulation für eine konstante Körpertemperatur?

Wenn es zu heiss wird, beginnen wir zu schwitzen und schalten vielleicht einen Ventilator ein. Die Thermoregulation hilft uns, unsere Körpertemperatur in dem Bereich zu halten, den sie braucht. Aber bei zu hohen Temperaturen funktioniert sie nicht mehr. Man kann nur bis zu einer bestimmten Menge schwitzen. Man kann nur eine bestimmte Menge an Flüssigkeit in einem bestimmten Zeitraum trinken. Wenn der Körper zu lang extremen Temperaturen ausgesetzt ist, überwärmt sich der Körper, und es kommt zu Krankheiten, etwa einem Hitzschlag.

Wie verschlimmert extreme Hitze neurologische Krankheiten?

Manchmal hat es damit zu tun, dass die Thermoregulation, die eine Gehirnfunktion ist, bei bestimmten Krankheiten nicht richtig funktioniert. Das ist bei einigen Formen von Multipler Sklerose der Fall. Da gibt es Hinweise, dass die Grundtemperatur gestört ist. Ausserdem können Medikamente die Thermoregulation beeinträchtigen.

Zum Beispiel?

Es gibt Medikamente, die die Schweissproduktion hemmen und so manchmal die Körpertemperatur erhöhen können. Bei Patient:innen mit einer seltenen Form von schwerer Epilepsie, dem Dravet-Syndrom, kommt es unter erhöhten Temperaturen eher zu Anfällen. Es gibt ein Medikament namens Topiramat, das manchmal bei diesen Patient:innen eingesetzt wird. In seltenen Fällen verringert sich dadurch die Schweissproduktion, was bei Hitzewellen zu Problemen führen kann. Aber auch Antipsychotika, die zur Behandlung von Schizophrenie eingesetzt werden, können die Regulation der Körpertemperatur beeinflussen.

Wirken sich Hitzewellen auch auf psychiatrische Erkrankungen aus?

Ja, grosse Studien zeigen, dass die Einweisungsraten für psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie während und nach einer Hitzewelle ansteigen. Dasselbe gilt für gewalttätiges Verhalten, suizidales Verhalten und Suizid selbst: Sie alle werden durch Hitzewellen verstärkt. Wahrscheinlich gibt es verschiedene Gründe dafür. Unter anderem könnten Schlafstörungen eine Rolle spielen.

Weil die Hitze uns den Schlaf raubt?

Es ist bekannt, dass Hitzewellen und insbesondere hohe nächtliche Temperaturen den Schlaf beeinträchtigen können. Bei vielen Menschen mit Epilepsie kann Schlafmangel das Anfallsrisiko erhöhen. Bei einigen Patient:innen mit seltenen Erkrankungen wie dem Dravet-Syndrom kann schlechter Schlaf dazu führen, dass sie weniger essen oder trinken wollen, was ohnehin schon ein Problem sein kann. Es gibt also mehrere Ebenen und Gründe, warum Menschen mit einigen dieser seltenen Krankheiten während Hitzewellen echte Probleme haben können.

Ich nehme an, dass dies auch für Menschen mit Demenz gilt?

Es gibt Hinweise darauf, dass die Zahl der Spitaleinweisungen von Menschen mit Demenz im Zusammenhang mit Hitzewellen steigt. Wahrscheinlich spielen da viele Faktoren zusammen, und schlechter Schlaf fördert nicht gerade die kognitiven Fähigkeiten. Sind diese beeinträchtigt, schützen sich die Betroffenen vielleicht nicht richtig, sie trinken zu wenig, vergessen ihre Medikamente, begeben sich in die Hitze und so weiter.

Abgesehen von bestehenden Erkrankungen: Können Hitzewellen auch neurologische Krankheiten auslösen?

Das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, ist während oder nach Hitzewellen erhöht. Die verschiedenen Studien dazu sind nicht immer vergleichbar, einige haben die Höchsttemperatur untersucht, andere die Temperaturschwankungen im Lauf des Tages oder die Dauer einer Hitzewelle, aber es gibt sehr deutliche Signale. Ausserdem wissen wir, dass sich mit dem Anstieg der Temperaturen und dem Klimawandel auch die lokale Umwelt verändert. Mückenarten, die Viren übertragen, die das Nervensystem befallen – etwa das Dengue- oder das Zikavirus –, breiten sich in den Norden aus. Auch das Gebiet der durch Zecken übertragenen Enzephalitis und Lyme-Borreliose verändert sich.

In letzter Zeit konnte man über Sportler:innen lesen, die während Hitzewellen zusammenbrachen. Wird der Klimawandel die Sportwelt verändern?

Das ist ein interessanter Punkt. Wir haben kürzlich eine Konferenz organisiert, auf der zwei junge, gesunde Sportler über ihre Erfahrungen berichteten. Beide erlitten beim Laufen bei ungewöhnlich hohen Temperaturen schwere hitzebedingte Erkrankungen. Und natürlich hat extreme Hitze viel direktere Folgen für Menschen, die im Freien arbeiten müssen, in der Landwirtschaft oder auf dem Bau.

Oft sind das Menschen mit wenig ökonomischen Ressourcen, die Risiken sind demnach ungleich verteilt.

Genau, und der Klimawandel wird die bestehenden Ungleichheiten verschärfen. Besonders verwundbar sind Menschen, die es sich nicht leisten können, bei Hitze nicht zu arbeiten. Viele der Länder, die die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels zu spüren bekommen werden, sind diejenigen, die am wenigsten in der Lage sind, damit umzugehen – und oft sind es auch diejenigen, die am wenigsten zum Problem des Klimawandels beigetragen haben.

Wo müsste man Ihrer Meinung nach ansetzen, um die Gesundheit besser zu schützen?

Wir müssen das Problem an der Wurzel packen. Wir müssen den Ausstoss von Treibhausgasen stoppen. Die Klimaerwärmung ist schlecht für das Gehirn. Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen und mehr Forschung betreiben, um zu verstehen, wer am meisten gefährdet ist und warum. Und wir müssen uns selbst an der Nase nehmen.

Wie meinen Sie das?

Das Gesundheitssystem selbst ist Teil des Problems. Würde man alle Gesundheitsdienste der Welt zu einem Land zusammenzählen, stünden sie an fünfter Stelle der Länder mit den höchsten Treibhausgasemissionen. In Grossbritannien ist das Gesundheitswesen für vier Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich.

Was kann das Gesundheitswesen dagegen tun?

Der britische National Health Service hat sich als erster Gesundheitsdienst der Welt zum Ziel gesetzt, bis 2040 und für seine Zulieferer bis 2045 Netto-null-Emissionen zu erreichen. Ein Medikament namens Desfluran wurde bereits aus dem Verkehr gezogen. Das ist ein Anästhetikum, das auch ein sehr starkes Treibhausgas ist. Meines Wissens ist es weltweit das erste Medikament, das aus Klimagründen vom Markt genommen wurde. Emissionen lassen sich auch bei der Medikamentenherstellung einsparen, bei Einwegplastik oder der Art und Weise, wie wir klinische Studien planen. Wir haben uns dazu noch nicht viele Gedanken gemacht, aber das ändert sich nun.