Long Covid: Die Gefahr bleibt im Hirn

Nr. 50 –

Eine Studie lässt vermuten, dass sich das Spike-Protein des Coronavirus im Gehirn ablagert und dort Entzündungsprozesse auslöst. Das würde viele Long-Covid-Symptome erklären – aber auch neue Fragen aufwerfen.

Corona mag seinen Schrecken verloren haben, seit ein Grossteil der Menschen Kontakt mit dem Virus Sars-CoV-2 hatten und viele geimpft sind: Die Verläufe sind meist nur noch mild, weniger heftig gar als bei einer Grippe. Wäre da nicht das anhaltende Problem von Long Covid. Weltweit leiden zwischen fünf und zehn Prozent auch Monate nach einer Infektion noch an chronischer Erschöpfung, Belastungsintoleranz, Konzentrationsschwierigkeiten und Brain Fog. Weil eine klare Diagnose fehlt, wird Long Covid noch immer nicht systematisch erfasst, aber allein in der Schweiz dürften zwischen 80 000 und 450 000 Personen davon betroffen sein.

Eine Studie des Zürcher Immunologen Onur Boyman gab ihnen Anfang 2024 neue Hoffnung. Boyman hatte im Blut ein spezifisches Proteinprofil identifiziert, das zum angeborenen Immunsystem gehört und aktiv wird, sobald Viren und Bakterien in den Körper eindringen. Bei Long-Covid-Patient:innen bleibt es überaktiv und verursacht Symptome, wie sie Betroffene beschreiben. Boyman war überzeugt, dass sich die identifizierten Biomarker mit einem Bluttest würden nachweisen lassen und so eine Diagnose ermöglichten. Doch bis heute hat sich kein Pharmaunternehmen finden lassen, das bereit wäre, die Entwicklung eines solchen Tests zu finanzieren.

Abwehrsystem im Overdrive

Nun hat ein Forschungsteam um den Neurologen Ali Ertürk vom Helmholtz-Zentrum in München auf der Suche nach Ursachen von Long Covid ein neues Puzzleteil entdeckt: Offenbar lagert sich das Spike-Protein von Sars-CoV-2 in der Hirnhaut und im Knochenmark des Schädels ab und verbleibt dort noch Jahre nach der Infektion. Das kann chronische Entzündungen auslösen, weil das neuronale Abwehrsystem ähnlich wie im Fall des angeborenen Immunsystems in einen Überaktivismus gerät, und würde möglicherweise auch die neuronalen Symptome von Long-Covid-Betroffenen erklären.

Aussicht auf einen diagnostischen Test, so stellt Ertürk im Gespräch klar, bestehe damit allerdings nicht. Die Ablagerungen des Spike-Proteins lassen sich nur nach dem Tod anhand von Gewebeproben nachweisen. Gelungen ist dies seinem Team am Beispiel eines relativ kleinen Samples von Patient:innen, die nicht an den Folgen einer Covid-19-Infektion gestorben sind. Über ihren Impfstatus ist nichts bekannt, Ertürk betont aber, er könne sich nicht vorstellen, dass die Ablagerungen vom Impfstoff herrührten. In einem Kontrollexperiment mit Mäusen, die sein Team mit Sars-CoV-2 infizierte, wies jene Hälfte, die zuvor mit dem mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer geimpft worden war, eine um fünfzig Prozent geringere Ablagerung von Spike-Proteinen in Hirnhaut und Schädelknochenmark auf.

Das zeigt zwar einmal mehr, dass der Impfstoff wirkt – punkto Long Covid bedeutet es indes keine Entwarnung, weil es trotz Impfung bei jeder Reinfektion mit dem Virus erneut zu Ablagerungen des Spike-Proteins im Gehirn kommt. Ein toxisches Risiko, wie Ertürks Mausexperimente nahelegen: Die Akkumulation des Spike-Proteins führt zu dauerhaften Veränderungen im neuronalen Abwehrsystem, es können chronische Gehirnentzündungen und in der Folge vermehrte Schädigungen im Gehirn auftreten. Das Profil der Proteingruppen, die an diesen neurodegenerativen Prozessen beteiligt sind, weist auf ein steigendes Risiko für Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Alzheimer hin. Um von kausalen Zusammenhängen sprechen zu können, seien jedoch weitere Studien notwendig, sagt Ertürk.

Die Neuropsychologin Julie Péron vom Universitätsspital Genf, die zu Long Covid forscht und an den Behandlungsempfehlungen für Ärzt:innen in der Schweiz mitgearbeitet hat, erzählt in der jüngsten Ausgabe des Forschungsmagazins «Horizonte» von ähnlichen Resultaten: von Menschen, die sich nicht mehr krank fühlten, aber messbare Aufmerksamkeitsdefizite zeigten und sichtbare Veränderungen im Gehirn, wie man sie bei neurodegenerativen Krankheiten beobachtet. Sie befürchtet «eine Verstärkung der Symptome und folglich eine Zunahme solcher Krankheiten in den nächsten Jahren».

Hoffnung auf Antikörper

Wie der Zürcher Immunologe Boyman hofft auch Ali Ertürk darauf, einen Biomarker zu finden, mit dessen Hilfe sich Spike-Proteine im Blut oder in der Hirnflüssigkeit identifizieren lassen. In der aktuellen Studie ist seinem Team ein solcher Nachweis noch nicht geglückt. Angesichts einer längerfristig drohenden Zunahme neurodegenerativer Erkrankungen als Spätfolge von Corona seien frühzeitige Diagnosen von Covid-19-bedingten neurologischen Komplikationen aber umso wichtiger. Nicht zuletzt, um gezielter Therapien entwickeln zu können.

Einen erfolgversprechenden Weg sieht Ertürk in der Forschung der Immunbiologin Akiko Iwasaki an der Yale School of Medicine in den USA. Sie arbeitet mit Ansätzen, die man aus der Behandlung von Autoimmunerkrankungen kennt: dem zielgerichteten Einsatz von Antikörpern. «Mit einem Antikörper könnte es gelingen, das Spike-Protein aus dem Blut oder der Hirnflüssigkeit zu fischen, bevor es sich im Gewebe ablagern kann», so Ertürk. Damit liessen sich neurologische Beeinträchtigungen durch Long Covid besser behandeln, im besten Fall sogar verhindern.