Im Affekt: Volle Ladung Mut
Frank-Walter Steinmeiers Kiefer mahlte, seine Gesichtsfarbe wechselte von blass zu weiss. Weiss glühend. Beim Apéro nach der Feier habe der deutsche Bundespräsident auf den Berliner Schriftsteller Marko Martin eingeredet, weiterhin wutentbrannt, wie Anwesende bestätigten. Zuvor hatte Martin in einer brillanten Rede zum 35. Jahrestag des Mauerfalls Steinmeier scharf angegriffen. Steinmeier sass zwei Meter vor ihm in der ersten Reihe, inmitten anderer Würdenträger. Ihre Mimik zu Beginn der Rede machte klar, wie selbstzufrieden die Mächtigen sich stets darauf verlassen können, dass niemand es wagt, die Ruhe zu stören.
Daran hielt sich Martin schon in den ersten Sätzen nicht. Er kritisierte, dass eingeladene Veteran:innen der Solidarność-Revolution beim anschliessenden «ausschliesslich deutschen Panel» nicht mitreden konnten. Die polnischen Gäste auf den billigen Plätzen horchten auf, und Steinmeier begann wohl zu ahnen, dass es ungemütlich werden könnte.
Rhetorisch wenig geschmeidig, aber inhaltlich und sprachlich umso treffender zeichnete Martin eine für alle Seiten wenig ruhmreiche Version der Ereignisse um und seit 1989. Zuerst beschrieb der kurz vor dem Mauerfall aus der DDR Emigrierte, wie viele seiner Mitbürger:innen sehr lange «hinter den Wohnzimmergardinen» abgewartet hätten, während draussen auf der Strasse verhältnismässig wenige Protestierende ihr Leben riskierten. Das erkläre so «manche fortwirkende Mentalität» wie die mangelnde Solidarität mit der Ukraine, wie die Wahlerfolge der AfD und der «autoritären Wagenknecht-Sekte». Dann knöpfte sich Martin das «Ehrlichkeitsdefizit West» vor, etwa in Gestalt von Steinmeier, der das lukrative Nord-Stream-Pipelineprojekt viel zu lange gegen jede fundierte Kritik als «Brücke» verteidigt habe: eine stete Ermutigung von Putins Aggressionen.
Truth to power: den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht sagen. Der alte Slogan aus der Schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung zeigte seine Wirkung auch im edlen Berliner Schloss Bellevue. Die Messlatte für künftige Festreden liegt nach Martins Auftritt hoch.
Marko Martins Rede auf Youtube: www.youtube.com. Oder hier zum Nachlesen: www.welt.de.